Warum eine Revolution im Bildungswesen ohne eine Revolution der Gesellschaft nicht funktionieren kann

Von Sonja Grusch, SO Wien, Mittelschullehrerin

Die Krise im Bildungswesen ist allgegenwärtig. Rund 60% der Lehrpersonen sind Burnout gefährdet. Im österreichischen Durchschnitt sitzen über 20 Kinder/Jugendliche in einer Klasse. Am Land sind es etwas weniger, aber – das ist das Problem mit der Durchschnittsberechnung, die Missstände in der Regel beschönigt – in den Städten sind es oft auch über 25. 50% jener Klassen mit mehr als 24-26 Schüler*innen sind in Wien. Rund 60 % der befragten Eltern geben an, dass die Ausgaben für den Schulbesuch ihrer Kinder sehr oder ziemlich belastend sind. Und all das ist nur die Spitze des Eisbergs Bildungskrise. Nicht funktionierende Computersysteme, fehlendes Internet, Sprachprobleme, traumatisierte Schüler*innen und vieles mehr: wenn man 1 Lehrperson fragt, erhält man umgehend eine Liste mit 20 und mehr Punkten, was nicht passt. Nichts davon sind Kleinigkeiten und nichts davon ist erst seit gestern bekannt. 

Die Lawine an Problemen sind Hintergrund und Auslöser für diverse Bildungsproteste, zuletzt zum Bildungsaktionstag am 6. Juni. Auch international finden laufend Proteste bis hin zu Streiks im Bildungswesen statt, kein Winkel der Erde ist davon ausgenommen. Die Forderungen sind breit gefächert, doch im Kern geht es um mehr Ressourcen. Die zentralen Ziele sind eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Lehrpersonen und die Situation für die Schüler*innen zu verbessern, auch um eine höhere Bildungsgerechtigkeit zu erreichen. Denn das Bildungslevel ist sozial “vererbt”: gebildete Eltern können ihren Kindern eine höhere Bildung ermöglichen. Die Studie “Bildung in Zahlen” der Statistik Austria hat das, wieder einmal, deutlich gemacht. Hier setzen auch viele Forderungen an, in der Hoffnung, durch mehr und bessere Schule dieser Ungerechtigkeit entgegenwirken zu können. Zentrale Forderungen hierbei sind die Ganztagsschule, die Gesamtschule und die Abschaffung der Noten. Aber können solche – unterstützenswerten – Punkte die Bildungs-Ungerechtigkeit beheben? Und können sie in diesem kapitalistischen System überhaupt umfassend umgesetzt werden?

Die Rolle und Aufgabe von Bildung im Kapitalismus

Am 6. Dezember 1774 wurde unter Maria Theresia eine „Allgemeine Schulordnung“ erlassen, die auch eine Unterrichtspflicht vorsah. Soweit der Mythos der wohl bei vielen Schüler*innen der Kaiserin nur wenig Sympathiewerte eingebracht hat. Die Realität sah schon damals anders aus: nur ca. 30% der Kinder besuchten tatsächlich eine Schule, und auch nur wenige Jahre. Kinderarbeit und Armut war für die Mehrheit bis ins 20. Jahrhundert die tägliche Realität. Maria Theresia führte die Unterrichtspflicht nicht ein, weil sie so kinderlieb gewesen wäre oder kritische Geister fördern wollte. Vielmehr war der Hintergrund die dringend nötige wirtschaftliche und militärische Modernisierung. Österreich war wirtschaftlich abgehängt (ähnlich wie es viele europäische Länder heute im internationalen Wettbewerb sind). Die sich entwickelnde Industrie wurde gefördert, u.a. durch Steuerbefreiung und die Schaffung von Fach- und Gewerbeschulen, von Handelsakademien und technischen Lehranstalten. Auch die im 18. Jahrhundert eingerichteten Arbeitshäuser und Zuchthäuser, die Waisenhäuser und Spinnschulen sollten v.a. günstige Arbeitskräfte bereitstellen. Die Armen sollten nun nicht mehr räumlich entfernt, sondern zur Arbeit eingesetzt werden. Dazu wurden auch Zwang und Gewalt eingesetzt. Gleichzeitig wurden Gymnasien, also klassische und Allgemeinbildung, zurückgedrängt. Eine Anpassung der Bildungsinhalte an wirtschaftliche Interessen gab es also schon damals. Die Unterrichtspflicht existierte lange nur auf dem Papier (ähnlich wie heute die “Ausbildungspflicht” und die tägliche Turnstunde..) und wurde erst ab der 1. Republik tatsächlich Realität. Und: Bis heute ist es legal, dass schon 13-jährige im Familienbetrieb arbeiten, für Feldarbeit von der Schulpflicht freigestellt werden und über 40.000 Kinder in Österreich pflegen heute ihre Angehörigen! 

 Die Schulen bzw. das gesamte Bildungswesen hatte und hat drei zentrale Aufgaben:

  • die nötigen Arbeitskräfte in entsprechender Qualifikation bereit zu stellen. Danach richtet sich der Lehrplan und wird daran auch angepasst, z.B. weg von “musischen” Fächern (Zeichnen, Werken, Kochen, Musik etc.) hin zu MINT-Fächern (Mathe, Informatik, Naturwissenschaft, Technik)
  • die herrschende Ideologie durchzusetzen, die als “normal” präsentiert wird und alles andere ist “außerhalb der Norm”. Historisch bedeutete das den starken Einfluss der katholischen Kirche, der sich auf allen Ebenen widerspiegelt, bis hin zur Sitzordnung. Ursprünglich gab es lange, schmale Bänke und die Mädchen saßen auf der einen, die Burschen auf der anderen Seite. Wenn der Lehrer die Klasse betrat, wurde er stehend begrüßt – genauso wie der Pfarrer in der Kirche. Heute gilt “wirtschaftliches Denken” als zentrale Tugend und der Kapitalismus mit all seinen Ungerechtigkeiten, Krisen und der Zerstörung der Umwelt wird als Naturgesetz gelehrt. Die Schulreform von Maria Theresia umfasste auch einheitliche staatliche Schulbücher zur Ideologie-Vermittlung. Die staatliche Schulbuchkommission ist dafür die heutige Entsprechung.
  • die Disziplinierung der Untertanen oder mit heutigen Worten des “Staatsvolkes”. Schulglocke und Pausenordnung waren zentrale Instrumente, deren disziplinierende Funktion mindestens genauso wichtig war wie Lerninhalte selbst. Sie waren die Gegenstücke zu Fabrikglocke, Stechuhr und anderen Instrumenten um die Arbeiter*innen an die Maschine anzupassen. Noten, inklusive solcher fürs „Betragen“, fanden im Arbeitsbuch bzw. heute im Dienstzeugnis ihre Entsprechung. Züchtigung und erzwungener “Respekt” dienten zur Durchsetzung der Rangordnung und gelten – wenn auch nicht in voller Brutalität – immer noch. Bis heute kommt den Noten ein stark disziplinierendes Element zu und zahlreiche Studien beweisen deren Willkür. Aber selbst wenn man die Noten abschaffen würde, müssten sich Schüler*innen nach dem Schulabschluss immer noch auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt “durchsetzen”. Auch wo es keine Noten gibt, gibt es “bessere” und “schlechtere” Schulen. Der Leistungsdruck gehört zum Kapitalismus wie das Amen zum Gebet. „Nicht für die Schule, für das Leben lernt man” stimmte und stimmt in diesem Sinne also bis heute.

Mit der Aufklärung wird Bildung zur Tugend, aber nur für die Elite

Mit der Aufklärung und dem Aufstieg von Kapitalismus und Bürgertum änderte sich das Bild aufs Bildungswesen – allerdings nur für die Elite. Passend zu den neuen Produktionsformen war Wissenschaft erstrebenswert und wurde als Instrument zur Entwicklung der Gesellschaft gesehen. Allerdings war sie  stets der “besseren Gesellschaft” vorbehalten. Das Humboldtsche Bildungsideal spricht zwar davon, dass jedeR eine gewisse Allgemeinbildung als Basis braucht – aber was zu dieser Allgemeinbildung gehört entspricht stark einem bürgerlichen Verständnis das bis heute gilt: Latein, Altgriechisch, die alten Philosophen, Literatur etc – aber z.B. keine praktischen Fähigkeiten, Konsument*innenschutz, Arbeitsrecht etc. Bildung war also nach wie vor ein Privileg jener, die sich im wahrsten Sinne des Wortes die Hände nicht schmutzig machen mussten mit Arbeit. Man lies arbeiten, Dienstboten im Haushalt, Arbeiter*innen in den Fabriken. Und diese hatten weder Zeit noch Bedarf nach den bürgerlichen Bildungsinhalten. Und doch sind es bis heute diese bürgerlichen Bildungsinhalte, die als die Krone der Bildung gelten. Es zeigt sich also auch hier: Die herrschende Ideologie ist die Ideologie der herrschenden Klasse.

Aufstieg durch Bildung? 

Zahlreiche Serien und Filme präsentieren uns Bildung als Ausweg aus der Misere. EinE engagierte neueR Lehrer*in kommt an eine Schule in einer miesen Gegend voller desillusionierter Jugendlicher. Er/Sie scheitert am Zynismus der Jugendlichen. Aber anstatt alles hinzuschmeißen oder sich frustriert dem Trott einzureihen nimmt er/sie einen neuen Anlauf und schafft es mit Selbstaufopferung und kreativen Methoden ein paar der Kids oder gar die ganze Klasse zu begeistern und so aus dem Sumpf zu ziehen. Ende gut, alles gut. Die Hoffnung vom “Aufstieg durch Bildung” ist weit verbreitet und hier setzt ein großer Teil der Reformbemühungen an wie Ganztagsschule, Gesamtschule etc. Auch die Arbeiter*innenbewegung hat das Recht auf Bildung als eine der ersten Forderungen aufgestellt. Hier stand der Ansatz “Wissen ist Macht” Pate und die Notwendigkeit, die Arbeiter*innenklasse aus der Dumpfheit von Unwissenheit und Lethargie zu holen. Organisatorisch musste sich die Arbeiter*innenbewegung in ihren Anfängen um Bildungsvereine aufbauen, da das oft die einzigen legalen Formen waren. Hier fand Bildung aber auch politische Bildung und Organisierung statt. Allerdings wurde mit der Dominanz des Reformismus und des bürgerlichen Staates aus dieser Taktik teilweise auch Ideologie und der bürgerliche Mythos vom “Aufstieg durch Bildung” (eine andere Form von “vom Tellerwäscher zum Millionär”) übernommen. 

Natürlich ist jede Verbesserung im Bildungswesen zu begrüßen und natürlich gibt es für das eine wie das andere Einzelbeispiele. Aber auch eine bessere Bildung ist kein Instrument, um in relevanter Anzahl die Klassenlinien zu überschreiten! Im Gegenteil findet sich hier letztlich ein idealistischer Ansatz wieder, der davon ausgeht, dass die Gesellschaft verändert werden kann, wenn der/die einzelne sich verändert. In diesem Fall, wenn jemand besser gebildet ist. Dazu passt dann auch der – ebenfalls idealistische – Anspruch an Lehrpersonen, wie er im obigen Film-Beispiel vertreten wird. Auch hier ist der Ansatz: engagierte Einzelpersonen können Missstände überwinden. Dabei wird dann völlig ignoriert, dass die Missstände gesellschaftliche Ursachen haben und eine solche Lösung – selbst wenn sie funktioniert – nur ein Minderheitenprogramm ist. Das ist eine Falle, in die viele Lehrpersonen tapen (und in die sie von Eltern, Gesellschaft etc.) auch getrieben werden: DU bist verantwortlich dafür, dass es die Kids schaffen.

In diesem Spannungsverhältnis finden sich fortschrittliche, linke, sozialistische Lehrpersonen ständig: Keine Illusionen haben, aber Verbesserungen zu erkämpfen. So wie es auch in anderen Bereichen des Arbeitslebens nötig ist, jede kleinste Verbesserung zu erkämpfen, ohne darüber zu vergessen, dass das ganze kapitalistische System das Problem darstellt. Im Bildungswesen kommt noch dazu, dass die Schule letztlich einen Teil des Disziplinierungs- und Repressionsapparats des bürgerlichen Staates darstellt. Für viele Lehrpersonen eine unangenehme Wahrheit, aber eine Tatsache. Unzählig sind die Versuche, hier auszubrechen. Viele davon finden sich unter dem Begriff „Reformpädagogik“ wieder, von denen Elemente auch ins heutige Bildungssystem eingeflossen sind. Die Montessori-Pädagogik ist in der Primarbildung (Kindergarten, Volksschule) inzwischen sehr weit verbreitet. Doch ist es nötig gerade auch im weiten Feld der Reformpädagogik näher hinzuschauen und die politische Heimat der jeweiligen Träger*innen zu durchleuchten. Die Nähe von Montessori zum italienischen Faschismus ist inzwischen bekannt, ebenso die ideologische Nähe von Steiner (Waldorf-Schulen) zur Rassenlehre der Nazis. Selbst wenn man die reaktionäre Basis dieser Strömungen ausblendet, bleibt ein individualistischer Ansatz, der die gesellschaftliche Ebene und die Wirkungsweise und Bedürfnisse der kapitalistischen Produktionsweise und Gesellschaft akzeptiert und füttert. Andere Ansätze gehen weiter, versuchen auch demokratische Elemente einzubauen und setzen auf die Förderung von kritischen Geistern und Selbstständigkeit. Das sind wesentliche Voraussetzungen für den Kampf gegen das System. Doch auch fortschrittlichere Strömungen der Reformpädagogik wie Dalton oder Parkhurst bleiben letztlich beim Konzept der Schaffung einer richtigen Schule im falschen System. 

Doch jede Reform- oder Protestbewegung, die sich auf viele kleinteilige Forderungen konzentriert, ist letztlich zum Scheitern verurteilt. Eine Bewegung für kleinere Klassen z.B. oder gegen Noten kann ein Ansatzpunkt für größere Kämpfe sein. Doch sie kann nur erfolgreich sein, wenn sie auch die größeren gesellschaftlichen Ursachen aufzeigt, wie z.B. dass aktuell Milliarden in die Aufrüstung fließen, die in den Bereichen Bildung und Soziales dringend fehlen. Auch ist es gerade in Bildungsprotesten auch nötig sich stets bewusst zu sein, was die Rolle des Staates eigentlich ist, dass er eben kein neutrales, gutmeinendes Konstrukt ist, dem man nur die guten Argumente darlegen muss, sondern dass er stets ein Instrument der Herrschenden Klasse und ihrer Interessen ist. Gerade weil die Schule auch ein Spiegel der gesamten Gesellschaft ist, spiegeln sich alle gesellschaftlichen Probleme wider. Sie in der Schule aufzugreifen ist von zentraler Bedeutung. Kampf gegen jede Form von Diskreminierung ist notwendig und gehört zu den Aufgaben von Sozialist*innen, egal ob sie Schüler*innen, Eltern oder Lehrpersonen sind. Notwendig ist aber gleichzeitig das Verständnis, dass die Schule kein “sicherer Raum” sein kann und im Gegenteil selbst Teil des Repressionsapparats ist.

Lehrpersonen sind als unselbstständig Beschäftigte sehr direkt betroffen von Kürzungen und steigendem Arbeitsdruck. Als solche können und müssen sie auch Teil von Klassenkämpfen sein im Zuge derer sich auch ein Bewusstsein für die Macht der Arbeiter*innenklasse entwickelt. Die Bündnispartner*innen im Kampf für Verbesserungen sitzen daher auch nicht in der Bildungsdirektion, dem Unterrichtsministerium oder der Regierung, sondern sind die Kolleg*innen in anderen Bereichen, und können Schüler*innen und ihre Eltern sein. Jede kleine Verbesserung auf dem Weg dorthin zu begrüßen, jeder Kampf zu unterstützen – stets mit dem Verständnis, dass dies nur der Probelauf für die große nötige Veränderung ist. Wissen allein schafft eben noch keine Macht – um die Machtverhältnisse fundamental zu verändern, braucht es mehr! Eine Revolution der Bildung ist absolut nötig, doch diese wird umfassend nur mit einer Revolution der ganzen Gesellschaft möglich sein. Nur wenn die Wirtschaft nicht mehr nach Profitinteressen organisiert ist, können Lernende nach Interessen und Fähigkeiten unterstützt werden und müssen nicht in ein enges Nutzen-Korsett gezwängt werden. In einer echten sozialistischen Gesellschaft, in der der Reichtum allen gehört und demokratisch organisiert ist, ist der Sinn von Bildung nicht mehr, Arbeitskräfte für einen kapitalistischen Arbeitsmarkt zu produzieren und uns auf Leistungsdruck zu programmieren. Lernende und Lehrende können gemeinsam entscheiden, wie das Lernen aussehen soll. Nur dann ist ein Lernen möglich, das von der ersten bis zur letzten Lebensminute spannend und interessant ist. Das alles ist in einer kapitalistischen Profitwirtschaft nicht möglich, wie es auch anders geht findet ihr hier: https://solidaritaet.info/2024/06/ist-eine-andere-schule-moeglich/

Wir sammeln Unterschriften für Dienststellenversammlungen, eine Initiative die mit der Kampagne für den Bildungsaktionstag am 6.6. begonnen hat, aber darüber hinausgeht – da sich auch im Herbst 2024 die Probleme nicht in Luft auflösen: https://aktion-bildung.at/unterschriftenaktion-wir-haben-nicht-genug/