Nigeria befindet sich in Aufruhr. Eine Kombination aus Wirtschaftskrise, massiver Währungsabwertung, neoliberaler Wirtschaftspolitik, Unsicherheit, verschiedenen Aufständen und der jüngsten neoliberalen Politik des neuen Präsidenten haben das Land in eine schwere soziale und wirtschaftliche Krise gestürzt, die sich weiter zu verschärfen droht. Der Lebensstandard sinkt rapide, Teile der Wirtschaft kommen zum Stillstand und der IWF warnt, dass die Inflation auf 44 % steigen könnte. Vor etwas mehr als zwei Wochen begannen im Norden Nigerias Straßenproteste gegen die in die Höhe schießenden Lebensmittelpreise, die sich seitdem ausbreiten.
Gestern schrieb die Vanguard, eine große nigerianische Zeitung, in einem Leitartikel, dass „die Bundes- und alle Landesregierungen angesichts der verzweifelten Lage, in der sich die nigerianische Bevölkerung befindet, aufstehen und etwas tun müssen, sonst könnte die Situation sehr schnell außer Kontrolle geraten. Hunger und bittere Armut haben das Land übernommen. Selbst Menschen, die sich früher um die weniger Privilegierten gekümmert haben, sind aufgrund der harten wirtschaftlichen Bedingungen nicht mehr in der Lage, ihre Grundrechnungen zu bezahlen. Die Proteste in Niger, Kano und anderen Orten des Nordens sind nur Warnschüsse“.
Die beiden Gewerkschaftsverbände NLC und TUC stellten der Regierung am 8. Februar ein weiteres Ultimatum, in dem sie Maßnahmen bis zum 23. Februar forderten, und nun rief der NLC am vergangenen Freitag zwei Protesttage für den 27. und 28. Februar aus. Der NLC erklärte, dass er der Bundesregierung eine siebentägige Frist bis zum 2. März setzen werde, nach deren Ablauf ein unbefristeter landesweiter Streik beginnen werde, falls seine Forderungen nicht erfüllt würden.
Das Democratic Socialist Movement (CWI Nigeria) hat am 19.2.2024 folgende Erklärung zu den Maßnahmen abgegeben, die es in dieser Krisensituation vorschlägt.
CWI
DSM begrüßt die Ankündigung eines zweitägigen bundesweiten Protests gegen die Krise der Lebenserhaltungskosten durch den NLC
* Forderungen müssen die vollständige Rücknahme der Benzinpreiserhöhung und der Deregulierung sowie sofortige Maßnahmen zum Stopp des kometenhaften Preisanstiegs für Lebensmittel und andere Grundbedürfnisse beeinhalten.
* Da wir die Vorliebe der Gewerkschaftsführung für Kompromisse und Absagen von Protesten in letzter Minute kennen, fordern wir jene Aktivist*innen, die pro-Arbeiter*innenbewegung gesinnt sind, auf, unabhängig für einen landesweiten Streik und Massenproteste zu mobilisieren.
Das Democratic Socialist Movement (DSM) begrüßt die Erklärung der Führung des Nigeria Labour Congress (NLC), am 27. und 28. Februar 2024 einen zweitägigen landesweiten Protest gegen die lähmende Krise der Lebenshaltungskosten durchzuführen. Diese Erklärung folgt auf eine 14-tägige Ankündigung eines Generalstreiks, die zuvor am 8. Februar 2024 an die Bundesregierung gerichtet wurde. Das zeigt, dass die Führung der Gewerkschaftsbewegung die wachsende Flut spontaner Massenproteste, die in den letzten Wochen als Reaktion auf die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage im ganzen Land ausgebrochen sind, nicht mehr ignorieren kann. Die Gewerkschaftsführung hatte sich anfangs öffentlich über die Idee lustig gemacht, die Wut der nigerianischen Massen anzuführen. Eine Beibehaltung ihrer bisherigen Haltung hätte bedeutet, dass sie riskiert, dass sich die Wut der Massen gegen sie wendet.
In den letzten Wochen kam es zu spontanen Protesten in Kano, im Bundesstaat Niger, im Bundesstaat Osun und in jüngster Zeit in den Bundesstaaten Lagos, Sokoto und Ogun. Selbst dort, wo die Proteste noch nicht ausgebrochen sind, ist der Zorn der arbeitenden Bevölkerung und der Jugend über das unermessliche Leid, das ihnen zugefügt wird, unüberhörbar, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Damm bricht. Diese spontanen Proteste stellen zweifellos eine entscheidende Veränderung der Situation dar und sind ein Zeichen dafür, dass die nigerianischen Massen die Nase voll haben von der verheerenden Krise der Lebenshaltungskosten, die zu einer zunehmenden Verarmung vieler Menschen geführt hat, insbesondere der Arbeiter*innenklasse, der Mittelschicht und der armen Bevölkerungsschichten.
Die unmittelbare Verantwortung für das schockierende Leid liegt eindeutig bei der kapitalistischen Regierung Tinubu. Seit dem 29. Mai 2023, als Präsident Tinubu und der regierende All Progressive Congress (APC) nach einer Wahl, die der knappste Sieg eines nigerianischen Präsidenten seit 1979 war, in sein Amt eingeführt wurden, hat er deutlich gemacht, dass er beabsichtigt, der Masse der Bevölkerung eine neoliberale kapitalistische Wirtschaftsagenda aufzuzwingen. Dies beinhaltete eine Abschafffung der Treibstoffsubventionen und damit eine Benzinpreiserhöhung*, eine Abwertung des Naira (Währung in Nigeria, Anm.) sowie eine Verschärfung der Politik der Unterfinanzierung, Privatisierung und Deregulierung öffentlicher Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit. Gleichzeitig darf nicht vergessen werden, dass alle Präsidentschaftskandidat*innen der großen Parteien die Abschaffung der sogenannten Treibstoffsubvention befürwortet hatten.
Durch die Ausrufung einer zweitägigen landesweiten Massenaktion kann der NLC dazu beitragen, die organisatorische und politische Macht der organisierten Arbeiter*innenklasse einzusetzen, um die Wut der Massen zu stärken und ihr konkreten Ausdruck zu verleihen und so sicherzustellen, dass sie gewinnt. Dies kann jedoch nur geschehen, wenn die NLC-Führung es dieses Mal ernst meint und nicht einfach wiederholt, was sie in früheren Kämpfen immer getan hat, nämlich Aktionen anzukündigen, um sie dann in letzter Minute abzusagen, ohne dass etwas erreicht wurde. Durch ein solches Verhalten erhält sie das Leiden aufrecht und stiftet Verwirrung und Demoralisierung in der Bewegung. Hätte der NLC seinen geplanten Generalstreik wegen der Abschaffung der Subventionen am 6. Juni letzten Jahres nicht ausgesetzt, hätte das Tinubu-Regime möglicherweise nicht das Vertrauen gehabt, die anschließende neoliberale Politik der Währungsabwertung durchzusetzen, die die Situation für die Masse des Volkes weiter verschlechtert hat.
Sollte die NLC-Führung diesen desaströsen Zugang unter den aktuellen Umständen wiederholen, könnte sie sich den berechtigten Zorn der wütenden Massen und der Jugend zuziehen, die die Führung der Gewerkschaftsbewegung bereits mit Misstrauen betrachten. Es sollte nicht vergessen werden, dass die #EndSARS-Revolte am 7. Oktober 2020 ausbrach, nachdem die von Ayuba Wabba geführte NLC in letzter Minute einen Generalstreik am 28. September 2020 ausgesetzt hatte. Während des Protests standen viele junge Menschen der Gewerkschaftsbewegung im Allgemeinen und der Idee von Führung ablehnend gegenüber, weil sie wütend über den Verrat der Gewerkschaftsführung während früherer Kämpfe waren.
Doch wer gewarnt ist, ist gewappnet. DSM ist der Ansicht, dass Arbeiter*innen und Aktivist*innen diese Neigung der Gewerkschaftsführung, gegen die Interessen der Bewegung zu handeln, nicht weiter tolerieren, sondern sich organisieren sollten, um sie herauszufordern. Um zu verhindern, dass eine Aussetzung oder ein Verrat in letzter Minute durch die Führung des NLC und der Gewerkschaften Auswirkungen auf die Bewegung hat oder den Kampfgeist der Massen demoralisiert, schlagen wir vor, dass pro-labour Gruppen wie JAF, ASCAB, CORE, TIB, TPAPM, Aktivist*innen und Sozialist*innen zusätzlich zu ihren eigenen unabhängigen Aktionen und Initiativen für Massenaktionen dringend damit beginnen sollten, demokratische Aktionskomitees an Arbeitsplätzen, Universitäten und in den Gemeinden zu bilden, um sicherzustellen, dass der landesweite Protest ungeachtet dessen weitergeht. Ein solches Netzwerk von Aktionskomitees, das im ganzen Land eingerichtet wird und im Namen der nigerianischen Massen handelt, kann schnell eingreifen und erklären, dass die geplante Aktion durchgeführt werden soll, und so dazu beitragen, eine Demoralisierung zu verhindern. Durch solche Aktionskomitees können auch weitere Schritte diskutiert und vereinbart werden, um den Kampf über den 27. und 28. Februar hinaus voranzutreiben.
Im Moment scheint nur der NLC hinter dem für nächste Woche angekündigten landesweiten Protest zu stehen. Der Trade Union Congress (TUC), der sich oft mit dem NLC zusammengeschlossen hat, hat noch keine Erklärung dazu abgegeben. Wir von der DSM glauben, dass die Einheit der Arbeiter*innenklasse in dieser Stunde entscheidend ist. In diesem Sinne rufen wir die Führung des TUC sowie Aktivist*innen innerhalb der Bewegung dazu auf, dafür zu plädieren, dass der TUC den 27. und 28. Februar als Termin festlegt.
Wir fordern den NLC und den TUC außerdem auf, die Forderungen des Kampfes nicht nur auf Linderungsmaßnahmen zu beschränken. Wir fordern sie auf, auch die Rückgängigmachung der Treibstoffpreiserhöhung und aller neoliberalen Maßnahmen zu fordern, die die unmittelbaren Ursachen der gegenwärtigen Krise sind. Wir begrüßen zwar jedes noch so kleine Zugeständnis, das für die arbeitende Bevölkerung errungen werden kann, aber ohne dass die Arbeiter*innenklasse den Kapitalismus beendet und die Führung der Gesellschaft unter einem sozialistischen Programm übernimmt, kann kein wie auch immer geartetes Zugeständnis eine dauerhafte Erleichterung für die leidgeprüfte arbeitende Bevölkerung und die Jugend bringen. Im Großen und Ganzen rufen wir die Arbeiter*innen und Gewerkschaftsbewegung dazu auf, für die folgenden Forderungen zu kämpfen:
-Rücknahme des Anhebung der Benzinpreise – Festsetzung auf das Niveau vor dem 29. Mai
-Rücknahme aller neoliberalen Maßnahmen
-Rücknahme der jüngsten Erhöhungen der Schulgebühren an den Hochschulen und für eine angemessene Finanzierung und demokratische Verwaltung des öffentlichen Bildungswesens auf allen Ebenen
-Sofortige Instandsetzung der Raffinerien in öffentlichem Eigentum und demokratische Kontrolle und Verwaltung dieser durch die arbeitende Bevölkerung
-Eine Preisobergrenze für alle Erdölprodukte aus der Dangote-Raffinerie, um die Erschwinglichkeit zu gewährleisten
-Gewerkschaftliche Maßnahmen zur Preiskontrolle und zur Verhinderung von Preistreiberei und Horten von Lebensmitteln und anderen lebenswichtigen Gütern
-eine Erhöhung des nationalen Mindestlohns um die Inflation abzugelten
-Sofortige Kürzung der Gehälter und Zulagen politischer Amtsträger
-öffentliches Eigentum an den Banken, Finanzinstitutionen, Industrien und Ölraffinerien unter demokratischer Arbeiter*innenkontrolle und -verwaltung, um sicherzustellen, dass Nigerias Wirtschaft für die Bedürfnisse aller und nicht für die Gier einiger weniger arbeitet
-Für den Aufbau einer echten Arbeiter*innenmassenpartei mit sozialistischem Programm
*Anmerkung der Redaktion: Das tägliche Leben in Nigeria hängt stark vom Benzinpreis/Ölpreis ab, da dieses für viele Dinge wie Kochen verwendet wird.
