Vorbemerkung: Anlässlich des 100.. Todestags von Vladimir Illjitsch Lenin am 21. Januar veröffentlichen wir hier eine Besprechung der Lenin-Biografie Lars T. Lih durch Peter Taaffe aus dem Jahr 2014 sowie zwei Originaltexte von Leo Trotzki über Lenin.

Lenin war, neben Trotzki, der wichtigste Führer der russischen Oktoberrevolution des Jahres 1917 – der ersten sozialistischen Revolution, in der die Massen selbst, organisiert in Räten, die Macht in die eigenen Händen nahmen. Die von Lenin geführte bolschewistische Partei spielte dabei eine zentrale Rolle.

Diese Revolution blieb in den Folgejahren in dem von Krieg und Bürgerkrieg zerstörten und ökonomisch und kulturell ohnehin rückständigen Russland isoliert. Die Macht der Arbeiter*innen wurde durch die Macht einer Parteibürokratie ersetzt, die zur stalinistischen Diktatur führte. Bürgerliche Politiker*innen und Historiker*innen stellen den Stalinismus gerne als logische Folge von Lenins Politik und Methoden dar und Lenin selbst als brutalen Diktatur. Nichts könnte der Wahrheit mehr widersprechen. Lenin stand für Arbeiter*innendemokratie und Sozialismus und versuchte in seinen letzten Lebsnsjahren und -monaten den Kampf gegen die Bürokratisierung der jungen Sowjetunion zu führen. Sein Tod am 21. Januar 1924 machte das jedoch unmöglich.

In einem Versuch, auf die Beschreibung Lenins durch kapitalistische Historiker als brutalen Diktator zu antworten, wenden sich einige Linke an Lars T. Lih. Er hat versucht, den Führer der Russischen Revolution als eine Art schwammigen Liberalen neu zu erfinden. Dabei besteht die Gefahr, dass das Verständnis dafür, wie man eine Bewegung aufbaut, die in der Lage ist, die Gesellschaft zu verändern, verloren geht.

Von Peter Taaffe

In der jüngsten “Revolution” in der Ukraine [2003-2004] – die sich gegen Wladimir Putins Versuche richtete, die ukrainische Regierung zu erpressen, um im Einflussbereich Russlands zu bleiben – demolierte eine Menschenmenge die letzte verbliebene Lenin-Statue in der Hauptstadt Kiew. Statuen wie diese wurden in der Vergangenheit in der ehemaligen “Sowjetunion” von den privilegierten stalinistischen bürokratischen Eliten errichtet, die sich vor dem Zorn der Massen schützen wollten, indem sie sich auf die politische Autorität Lenins beriefen. In Wirklichkeit trennte sie eine kolossale Kluft von Lenins wahren Ideen von Sozialismus und Arbeiter*innendemokratie.

Im kapitalistischen Westen gab es, wenn überhaupt, nur wenige Lenin-Statuen, die umgestürzt werden konnten. Also taten kapitalistische Historiker*innen und Akademiker*innen, insbesondere nach dem Zusammenbruch des Stalinismus – und damit leider auch der Planwirtschaften in Russland und Osteuropa – das Nächstbeste. Sie verunglimpften Lenin und seinen Mitanführer der Russischen Revolution, Leo Trotzki, und versuchten so, die Ideen des Sozialismus und des echten Marxismus systematisch zu diskreditieren.

In einer Reihe gewichtiger Bände unternahm eine kleine Armee moderner “Historiker”, wie Richard Pipes, Orlando Figes und nicht zu vergessen der unnachahmliche Robert Service, eine kolossale Umschreibung der Geschichte. Figes wurde öffentlich als Kritiker der Werke anderer Historiker*innen entlarvt, während er insgeheim lobende Rezensionen seiner eigenen Bücher schrieb! Service’s “Biographie” über Trotzki, die wir sofort nach ihrer Veröffentlichung rezensiert haben, ist inzwischen sogar von nicht-marxistischen Historiker*innen als nicht objektiv diskreditiert worden.

Angesichts der anhaltenden Krise des Kapitalismus, die zu einem neuen Interesse an Sozialismus und Marxismus geführt hat, ist heute jedoch ein neuer, “subtilerer” Ansatz erforderlich. In der akademischen Welt gibt es bereits eine Revolte gegen die bisherige Konzentration auf die marktwirtschaftliche, kapitalistische Wirtschaftslehre. Studierende und Dozent*innen fordern zunehmend, dass sie mit den Ideen von Karl Marx sowie mit den “radikaleren” kapitalistischen keynesianischen Ökonomen vertraut gemacht werden. Darin lässt sich ein Element des Wiederauftauchens der 1960er Jahre in den heiligen Institutionen des Lernens erkennen. Die enorme Radikalisierung von Studierenden und Akademiker*innen, die sich damals entwickelte, war ein Spiegelbild und in gewissem Maße ein Vorläufer der Massenbewegungen der Arbeiter*innen in den 1960er und 1970er Jahren.

Dieses Buch von Lars T. Lih – erstmals 2011 in der Reihe “Critical Lives” veröffentlicht – ist eine Antwort auf diese neue Situation. Darin, wie auch in seinen anderen Schriften, ist er Lenin wohlgesonnener als die oben genannten Historiker. Aber die Behauptung auf dem Buchumschlag, dass das Buch “eine bemerkenswerte neue Interpretation von Lenins politischer Anschauung” präsentiere, ist, gelinde gesagt, übertrieben. Lars gibt selbst zu: “Meine Sicht auf Lenin ist nicht besonders originell und deckt sich weitgehend mit der Sichtweise der meisten Beobachter Lenins und seiner Zeit”. Leider finden die “meisten Beobachter” immer noch nicht Lenins Ansichten “sympathisch”. Dies gilt insbesondere, wenn es um den Charakter der Partei geht, die die Arbeiter*innenklasse für einen erfolgreichen Kampf gegen den Kapitalismus und für den Sozialismus braucht.

Arbeiter*innen und Bäuer*innen

Trotzki, der in diesem Buch kaum Erwähnung findet, schildert in seiner unvollendeten Biografie über Stalin die reale Geschichte des Bolschewismus in seiner Anfangsphase sehr viel ausführlicher, wenn auch nur in groben Zügen. Er skizziert auch klar die Ansichten Lenins zu den entscheidenden Fragen des Charakters der erforderlichen revolutionären Partei und zu den Strukturen und Praktiken einer solchen Partei, einschließlich des demokratischen Zentralismus und seiner Ursprünge.

Lars hingegen schreibt in einer irreführenden, wolkigen und abstrusen Weise: “Lenin hatte eine romantische Vorstellung von der Führung innerhalb der Klasse. Er versuchte, die einfachen Aktivist*innen … mit einer erhabenen Vorstellung davon zu inspirieren, was ihre eigene Führung erreichen könnte”. In diesem Sinne ist das Buch auf irritierende Weise mit Phrasen wie Lenins “heroisches Szenario” gespickt. Hinzu kommen plumpe Behauptungen über die Beziehungen zwischen der Arbeiter*innenklasse und der Bauernschaft in Russland: “Sein Beharren auf dem Bauern als Mitläufer schloss eine überhöhte, ja romantische Sicht auf die Bauern in der Revolution nicht aus. Heroische Führer brauchten heroische Gefolgsleute.”

Natürlich konnte Lenin, wie die meisten Marxist*innen, begeistert sein. Sie wiederum konnten sich für das Spektakel der kämpfenden Arbeiter*innen begeistern, vor allem, wenn es einen Höhepunkt der Revolution erreichte. Der Marxismus ist durchdrungen vom Geist des Optimismus. Gleichzeitig ist Lenin in Bezug auf die Aussichten des Klassenkampfes im Allgemeinen und auf alle Fragen, die das Schicksal der Arbeiter*innenklasse betreffen, äußerst realistisch. Seine Auffassung von Führung, wie auch von der Notwendigkeit der Partei, war nicht “erhaben”, sondern praktisch und ergab sich aus dem Notwendigen.

Doch was soll man von Lars’ Schlussfolgerungen am Ende des Buches halten, wenn er schreibt: “Der alte Bolschewismus war durch seine Wette auf die revolutionären Qualitäten der Bauernschaft definiert. Doch weniger als ein Jahrzehnt nach seinem Tod führte das von Lenin gegründete Regime Krieg gegen die Bauern und erzwang während der Kollektivierungskampagne eine Revolution von oben, was zu einer verheerenden Hungersnot beitrug”. (Seite 202)

Erstens hat der Bolschewismus nie eine “Wette” auf die Bäuer*innennschaft abgeschlossen, sondern erkannt, dass diese niemals eine unabhängige Rolle spielen konnte. Daher stellte sich die Frage, wer sie in der Revolution anführen würde – wer würde ihre Forderung nach Land erfüllen – die Arbeiter*innenklasse oder die Bourgeoisie? Die Geschichte hat bewiesen, dass die Arbeiter*innenklasse die Bäuer*innenschaft in der Tat befriedigt hat, nachdem die Bourgeoisie und ihre Parteien bewiesen hatten, dass sie den Massen, einschließlich der Bäuer*innenmassen, niemals das Land sowie Frieden und Brot geben würden. Zweitens ist es lächerlich, “das von Lenin gegründete Regime”, wie Lars es tut, mit dem von Stalin geführten Regime zu identifizieren, das bereits zehn Jahre nach Lenins Tod von einer privilegierten bürokratischen Elite beherrscht wurde. Lenins Witwe, Nadeschda Krupskaja, erklärte 1926, dass Lenin, wenn er gelebt hätte, unter dem stalinistischen Regime inhaftiert worden wäre.

Die revolutionäre Partei

Das Buch enthält viele irreführende und folglich fehlerhafte Aussagen wie diese und kann daher nicht als korrekte Darstellung von Lenins Rolle in der Geschichte angesehen werden. Aber es wurde von einigen Linken aufgegriffen, sogar in bestimmten quasi-marxistischen Kreisen. Das liegt daran, dass Lars’ Darstellung, insbesondere in Bezug auf den demokratischen Zentralismus, einer Schicht entgegenkommt, die die Idee eines “harten” Lenin, zugunsten eines angeblich “offeneren” ablehnt. Es ist nicht das erste Mal, dass wir mit diesem Phänomen konfrontiert werden. In den 1960er und 1970er Jahren “entdeckten” Zeitschriften wie die New Left Review schwammige “bahnbrechende neue Theoretiker”, die dann immer fast so schnell wieder verschwanden, wie sie aufgetaucht waren.

Die Ideen von Lars sind zur aktuellen Mode für diejenigen geworden, die vor dem echten Marxismus und den wirklichen Traditionen von Lenin und Trotzki fliehen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit einer revolutionären Partei, die auf den Traditionen des demokratischen Zentralismus beruht. Dies steht in keiner Weise im Widerspruch zu der umfassenderen Aufgabe, in dieser Phase eine Massenpartei der Arbeiter*innen zu organisieren. Diese wird sich zwangsläufig auf einer viel lockereren Basis organisieren müssen, die eine Form von Föderation beinhaltet und in Großbritannien natürlich in den Gewerkschaften verwurzelt ist. Die Beibehaltung eines klaren marxistischen Kerns innerhalb solcher breiteren Formationen ist absolut notwendig. Ohne diesen wird es keine dauerhaften Errungenschaften für die Arbeiter*innenklasse geben.

Die Geschichte, auch die jüngste, unterstreicht diesen Punkt. So kamen zum Beispiel die wichtigsten Kräfte hinter der Gründung der Scottish Socialist Party (SSP) im Jahr 1998 aus unserer Partei. Die Führung von Militant (Vorläufer der Socialist Party, A.d.Ü.) unterstützte die Bildung einer solchen breiten Partei; tatsächlich waren wir die ersten, die diese Idee vorbrachten. Aber die Führung von Scottish Militant Labour (SML) schlug vor, die SML gleichzeitig mit der Gründung der SSP faktisch in diese Partei aufzulösen, und führte dies auch durch. Dies wiederum führte zu ihrer Trennung vom Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) in Schottland und international. Sie wurden nicht ausgeschlossen, sondern traten freiwillig aus unseren Reihen aus.

Wir warnten damals, dass dies nicht nur die tragische Schwächung einer ausgeprägten revolutionären Organisation und Tradition in Schottland bedeuten würde, sondern in einem bestimmten Stadium auch den völligen Zerfall der SSP. Leider hat sich dies bewahrheitet. Ein ähnlicher Prozess vollzog sich in Italien, wo verschiedene marxistische Organisationen der Rifondazione Comunista (RC) beitraten, als diese 1991 gegründet wurde, aber im Laufe der Zeit nicht in der Lage waren, die Reihen dieser Partei für eine klare marxistische Position zu gewinnen. Die RC hat sich inzwischen praktisch aufgelöst.

Vergleichen Sie dies mit den Erfolgen von Militant, sowohl als sie in der Labour Party war – 1964 hatten wir nicht mehr als vierzig Unterstützer*innen – als auch während unseres Ausschlusses in den späten 1980er Jahren. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass es sowohl in Schottland als auch in Italien keinen ausreichend organisierten und politisch geschulten marxistischen Kern gab, der in der Lage gewesen wäre, entweder eine Mehrheit in der Partei zu gewinnen oder zumindest eine größere Zahl von Anhänger*innen zu gewinnen, die dann die Grundlage für eine neue Organisation oder Partei hätten bilden können.

Die Klasse, die Partei und die Führung

Diese Fehler resultieren aus einem falschen Verständnis einiger marxistischer Kräfte vom Verhältnis zwischen der Klasse, einer Partei und ihrer Führung. Der “demokratische Zentralismus” – der Begriff selbst – ist keine Erfindung von Lenin, sondern wurde in der russischen Arbeiter*innenbewegung erstmals von den Menschewiki innerhalb der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDLP) verwendet. Die Konzeption einer Partei, ihre Organisationsmethoden und die Art und Weise, wie Diskussionen und interne Debatten geführt werden sollten, haben jedoch eine lange Tradition, die mit Marx und Engels beginnt.

Dies zeigt sich zum Beispiel in der Satzung des Bundes der Kommunisten von 1847, in dem Marx und Engels Mitglieder waren. Noch bevor der Begriff “demokratischer Zentralismus” verwendet wurde, wurde das Konzept in dieser ersten eigenständigen internationalen Partei der Arbeiter*innenklasse übernommen.

In ihren Statuten legt der Bund der Kommunisten die Bedingungen für die Mitgliedschaft fest: “Unterordnung unter die Beschlüsse des BUndes… Die Kreisbehörde [die eine Reihe von “Zweigstellen” umfasst, wie wir sie heute verstehen würden] ist das ausführende Organ für alle Gemeinschaften des Kreises… Die verschiedenen Kreise eines Landes oder einer Provinz sind einem leitenden Kreis unterstellt… Die Zentralbehörde ist das ausführende Organ des gesamten Bundes und als solches dem Kongress verantwortlich… Der Kongress ist die gesetzgebende Behörde des gesamten Bundes. Alle Vorschläge zur Änderung der Regeln werden über die führenden Kreise an die Zentralbehörde gesandt und von dieser dem Kongress vorgelegt… Wer gegen die Bedingungen der Mitgliedschaft verstößt… wird je nach den Umständen aus dem Bund entfernt und ausgeschlossen”.

Lenin nahm diese und andere Beispiele aus der historischen Erfahrung der Arbeiter*innenbewegung, einschließlich der deutschen Sozialdemokratie, und versuchte, sie auf die spezifischen Bedingungen in Russland anzuwenden. Lenins berühmtes Buch “Was tun?” aus dem Jahr 1901 war der Notwendigkeit einer zentralisierten Partei in Russland gewidmet. Lars befasst sich, wenn auch nicht sehr angemessen, mit einigen Teilen der Geschichte. Er berührt die Meinungsverschiedenheiten über die Formeln Lenins als Antwort auf die “Ökonomisten”, die sich auf die rein alltäglichen Kämpfe konzentrieren wollte. Lenin hat in seiner Beschreibung der Entstehung des sozialistischen Bewusstseins in der Arbeiter*innenbewegung nach seinen eigenen Worten “den Bogen überspannt”.

Lenins Behauptung, sozialistisches Bewusstsein könne nur von außen durch die revolutionäre Intelligenz in die Arbeiter*innenklasse gebracht werden, war falsch. Er entlehnte dies auch von dem deutschen sozialdemokratischen Führer und damaligen Marxisten Karl Kautsky. Obwohl Lenin dies später korrigierte, wurde es zur Rechtfertigung des hochmütigen Vorgehens selbst ernannter “Führer”, in der Regel von winzigen Organisationen, benutzt, die sich als “die” Führung der Arbeiter*innenklasse ausgeben.

Trotzki würdigte Lenins hartnäckige und mühsame Arbeit, mit der er durch den Kampf der Bolschewiki die Grundlage für den Ansatz der Massenpartei legte. Dennoch betonte er, dass der “Dampf”, die Arbeiter*innenklasse, die treibende Kraft der Revolution sei. Die Partei, wenn sie richtig handelt, spielt dieselbe Rolle wie ein “Kolben”, um sie für eine Revolution nutzbar zu machen.

Lenin betonte denselben Punkt im Gegensatz zu den “Kommissaren”, die sich im Untergrund formierten. Sie waren misstrauisch gegenüber den Initiativen der Arbeiter*innen. Trotzki hatte in seiner Broschüre “Politische Probleme” von 1904 vor den Gefahren des Auftauchens solcher Figuren gewarnt. Er wies darauf hin, dass diese Art von Komiteemitgliedern “sich nicht mehr auf die Arbeiter stützen müssen, da sie in den Prinzipien des ‘Zentralismus’ eine Stütze gefunden haben.” Lenin erkannte die Gefahren einer einseitigen Interpretation dessen, was er aufzubauen versuchte, als er schrieb: “Ich konnte mich nicht zurückhalten, als ich hörte, dass es keine arbeitenden Männer gab, die für die Mitgliedschaft im Komitee geeignet waren”. Trotzki bemerkt: “Lenin verstand besser als jeder andere die Notwendigkeit einer zentralisierten Organisation; aber er sah in ihr vor allem einen Hebel zur Steigerung der Aktivität des fortgeschrittenen Arbeiters. Die Idee, aus der politischen Maschine einen Fetisch zu machen, war ihm nicht nur fremd, sondern widerstrebte seinem Wesen.“ (Stalin, S. 103,)

Demokratischer Zentralismus

Lars T. macht pauschale, unrichtige Bemerkungen über den demokratischen Zentralismus. Er schreibt, dass es keine “Darlegung der Bedeutung des Begriffs gab – Lenin verwendete ihn beiläufig, um bestimmte Punkte zu verdeutlichen”. Er stellt auch fest: “Lenin hätte gesagt: ‘Der demokratische Zentralismus ist unter den Bedingungen des Untergrunds nicht möglich. Echte innerparteiliche Demokratie ist obligatorisch, wenn sie möglich ist, und entbehrlich, wenn sie nicht möglich ist’”.

Aber er liegt völlig falsch, wenn er ohne jede Grundlage in der tatsächlichen Praxis des Bolschewismus behauptet, dass der demokratische Zentralismus in einer Phase praktiziert und in einer anderen Phase völlig willkürlich zurückgenommen wurde. Die Bolschewiki haben sich, wie alle wirklich revolutionären Organisationen, zu jeder Zeit auf die allgemeinen Prinzipien des demokratischen Zentralismus gestützt: maximale Diskussion bis zu einer Entscheidung und dann eine einheitliche Anstrengung der gesamten Partei, Gruppe oder Organisation zur Umsetzung der Entscheidung. Selbst dann ist es völlig falsch, zu behaupten, dass alle Diskussionen und Debatten nach der Beschlussfassung beendet sind. Die Geschichte der echten Arbeiter*innenbewegung hat gezeigt, dass wichtige Diskussionen über ungelöste Fragen in Form von internen Bulletins, Debatten usw. außerhalb des Rahmens des nationalen Parteitags weitergeführt wurden.

Die verschiedenen Seiten dieser Frage mögen für isolierte Intellektuelle schwer zu begreifen sein, aber es ist eine Idee, die die Arbeiter*innenklasse leicht versteht, insbesondere ihre fortgeschritteneren, führenden Schichten. Sie ergibt sich aus der Lage der Arbeiter*innenklasse im Kapitalismus selbst.

Noch nie in der Geschichte war der Kapitalismus so zentralisiert wie heute. Noch nie waren die Zwangsmittel – siehe die Enthüllungen von Wikileaks, die massive Überwachung der eigenen Bevölkerung und anderer Regierungen durch kapitalistische Regierungen – so sehr in den Händen des kapitalistischen Staates konzentriert. Es ist daher unvorstellbar, dass ein loses Netzwerk in der Lage wäre, sich zu mobilisieren, um diese kolossale Macht zu besiegen. Ohne eine zentralisierte Massenpartei, die in der Lage ist, die Werktätigen zu vereinen und dann entschlossen zu handeln, wenn es die Zeit erfordert, ist es unmöglich, die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft, die größte Veränderung in der Geschichte der Menschheit, durchzusetzen.

Die Arbeiter*innenklasse versteht instinktiv die Notwendigkeit einer zentralisierten Partei und der damit einhergehenden Disziplin. Dies zeigt sich in jedem ernsthaften Kampf, insbesondere bei Streiks, an denen die Arbeiter*innenklasse beteiligt ist. Wenn zum Beispiel die Vertrauensleute aufgerufen sind, eine Frage zu diskutieren und zu debattieren, und das manchmal hitzig, werden sie sich normalerweise bemühen, mit einer Stimme zu sprechen, wenn sie die Frage in einer Massenversammlung vortragen. Natürlich wird es Fälle geben, in denen eine Minderheit von Vertrauensleuten und Arbeiter*innen mit einer Empfehlung nicht einverstanden ist, und in einer solchen Situation würden Marxist*innen dafür plädieren, eine umfassende Debatte zu führen.

Diese Methoden, die Elemente des demokratischen Zentralismus beinhalten, werden von den Arbeiter*innen instinktiv verstanden. Dies wird durch die jüngste Erklärung der National Union of Metalworkers of South Africa (Numsa) deutlich. Als sie den Bruch mit dem ANC ankündigte und die Idee einer neuen Massenpartei der Arbeiter*innen unterstützte, erklärte sie: “Die Numsa ist eine revolutionäre Gewerkschaft und spielt als solche eine führende Rolle bei der Beseitigung des Kapitalismus und der damit verbundenen Ausbeutung. Wir sind demokratische Zentralisten – wir glauben an eine robuste, energische und demokratische Debatte, die zu einer gemeinsamen Entscheidung und Aktion führt”.

Diskussion und Entscheidung

Es stellt sich also die Frage nach dem Gleichgewicht zwischen Demokratie, umfassenden Debatten und Diskussionen und der Wahrung des Rechts aller Mitglieder, sich an der Formulierung der Politik zu beteiligen, und Zentralismus, der Notwendigkeit, in jeder Phase einheitlich zu handeln. Dies kann nicht a priori entschieden werden – durch allgemeine Grundsätze, die jederzeit und unabhängig von den konkreten Umständen gelten. Die Organisation, selbst in einer revolutionären Massenpartei, ist für Marxist*innen kein unabhängiger Faktor. Sie ist eine Schlussfolgerung aus der Politik. Es sind die Politik, die Perspektiven und das Programm sowie die konkreten Umstände, die bestimmen, welche Formen der Organisation in jeder Phase angewandt werden sollten. Aber es stimmt nicht, wie Lars T. meint, dass der demokratische Zentralismus nur unter bestimmten Umständen angewandt wird und unter anderen nicht. Für Marxist*innen bedeutet demokratischer Zentralismus ein “bewegliches Gleichgewicht” zwischen Demokratie und Zentralismus, wobei je nach den konkreten Umständen der Demokratie oder dem Zentralismus der Vorzug gegeben wird.

Unter den Bedingungen des Untergrunds neigen die zentralistischen Methoden dazu, die volle Entfaltung der demokratischen Diskussion, Rechte und Prinzipien zu dominieren. Dies bedeutet jedoch keineswegs einen vollständigen Zentralismus mit wenig Demokratie. Im Gegenteil, während des Kampfes gegen das brutale zaristische Regime und seine Polizei debattierten und stritten die russischen Revolutionär*innen, einschließlich der Bolschewiki, miteinander über Programm und Politik. Dies war ein notwendiges Mittel zur Schärfung der politischen und theoretischen Waffen in Vorbereitung auf die Revolution. Es fanden sogar regelmäßig Kongresse statt, sowohl im Untergrund als auch während des Bürgerkriegs.

Es herrschte volle Diskussions- und Debattenfreiheit. Für die Bolschewiki, insbesondere Lenin und Trotzki, bedeutete dies jedoch nicht, dass die revolutionäre Partei zu einem Debattierklub werden sollte. Denjenigen, die diese Methode als inhärent “ungesund” bezeichnen, gab Trotzki einen Rat. Angesichts der Uneinigkeit in den Reihen seiner Anhänger*innen in Frankreich in den 1930er Jahren sagte er: “Eine kleinere, aber einmütige Organisation kann mit einer klaren Politik enormen Erfolg haben, während eine Organisation, die von internen Streitigkeiten zerrissen ist, zum Verfall verurteilt ist”. Es gibt heute einige Organisationen in Großbritannien und international, auf die Trotzkis Worte sehr treffend sind.

Lars T. versucht, einen weicheren Lenin zu präsentieren, der “offener” und “demokratischer” ist als die “zentralistische”, wenn nicht gar autoritäre Figur, die gewöhnlich von bürgerlichen und den meisten “marxistischen” Historiker*innen gleichermaßen beschworen wird. Dieser “neue” Lenin ist fast ein “Liberaler” in seiner angeblichen Akzeptanz der offenen, öffentlichen, uneingeschränkten Diskussion in einer revolutionären Partei.

Diese neue Herangehensweise an Lenin verzerrt seine wahren Ansichten. Es gab Zeiten, in denen Lenin und Trotzki für die offenste Art der Diskussion eintraten, auch in öffentlichen Foren und in schwierigen Zeiten, die in gewissem Maße außerhalb der Partei stattfanden. Nikolai Bucharin und die so genannten “Linkskommunisten”, die ihn bei der Brest-Litowsk-Kontroverse 1918 in seinem Eintreten für einen “revolutionären Krieg” unterstützten, hatten eine Tageszeitung, die gegen die Ideen von Lenin und Trotzki argumentierte.

Die kommunistischen Massenparteien in Frankreich und Italien argumentierten in ihren Tageszeitungen gegen die Idee der Einheitsfront. Aber nach zwei Jahren waren sie gezwungen, den Beschluss der Kommunistischen Internationale umzusetzen.

Es gibt viele weitere Beispiele, darunter Trotzkis anfängliche Unterstützung der Minderheit innerhalb der amerikanischen SWP in den 1930er Jahren für eine öffentliche Diskussion über den Klassencharakter der Sowjetunion. Er zog seinen Vorschlag jedoch zurück, als seine amerikanischen Mitdenker*innen darauf hinwiesen, dass diese Minderheit vor allem an das kleinbürgerliche Milieu außerhalb der Partei appellierte, das unter dem Druck der “demokratischen” öffentlichen Meinung von der Unterstützung der Sowjetunion abgerückt war. Dies verhinderte jedoch nicht, dass in den Reihen der SWP eine lebhafte Diskussion über diese Frage geführt wurde.

Parteifeindliche Stimmung

Ein Teil der Kampagne der Kapitalist*innen nach dem Zusammenbruch des Stalinismus bestand darin, die Stimmung in der Bevölkerung, insbesondere in der neuen Generation, gegen “Parteien” und das Modell der angeblich geschlossenen, autoritären Partei Lenins zu schüren. Wir argumentierten dagegen, erkannten aber auch, dass alles, was den Anschein erweckte, mit dem Stempel des Stalinismus behaftet zu sein, die neue Generation auf der Suche nach einer politischen Alternative abstoßen würde.

Diese “Anti-Politik”- und “Anti-Parteien”-Stimmung entsprach in Wirklichkeit einer tiefen Feindseligkeit gegenüber allen “offiziellen”, “traditionellen” Parteien, d.h. den kapitalistischen Parteien, einschließlich der Sozialdemokrat*innen und sogar der kommunistischen Parteien, die mit der alten Ordnung identifiziert wurden.

Diese Stimmung hielt übrigens über einen längeren Zeitraum an und ist auch heute noch ein wichtiger Faktor für die politische Situation in vielen Ländern. In Spanien gab es das Phänomen der “Indignados”, und in anderen Ländern gab es ähnliche Tendenzen. In Spanien spiegelte sich darin der völlig berechtigte Hass auf die so genannte “Sozialistische Partei” (PSOE) wider. Dies war ein Faktor, der zur Entstehung der Indignados beigetragen hat. Aber diese Feindseligkeit richtete sich auch oft gegen marxistische Gruppen, obwohl die aktivsten Vertreter*innen der Indignato-Bewegung selbst Mitglieder kleiner politischer Organisationen waren. Sie waren in der Tat “Anti-Gruppen-Gruppen”.

Doch was war das Ergebnis dieser politischen Abstinenz? In Spanien die katastrophale Wahl der rechtsgerichteten PP-Regierung, die eine verheerende Krise mit einer Jugendarbeitslosigkeit von weit über fünfzig Prozent verursacht hat. Daher hat diese neue Generation eine Neubewertung vorgenommen und kehrt wieder zu der Idee zurück, eine politische Alternative aufzubauen.

Eine ähnliche Stimmung herrschte in der Occupy-Bewegung, die sich im Anschluss an Initiativen in den USA weltweit entwickelte. Die anschließende Erfahrung zeigte, dass eine amorphe Bewegung, die zwar von jugendlicher Energie und Idealismus angetrieben wurde, der es aber an einer klaren Richtung und Organisation mangelte, kaum eine Gefahr für die stark zentralisierten und organisierten Kräfte des Kapitalismus darstellte. Ein neuer Weg wurde gesucht, und eine bedeutende Schicht von Arbeiter*innen und Jugendlichen fand diesen Weg in den spektakulären Wahlkämpfen in Seattle und Minneapolis.

Die Wahl einer Sozialistin in den Stadtrat von Seattle, zum ersten Mal seit 100 Jahren, stellte einen echten Sprung nach vorn dar, was die Möglichkeiten für politische Kämpfe nicht nur in den USA, sondern weltweit betrifft. Socialist Alternative [2014 war Socialist Alternative in politischer Solidarität mit dem CWI, trennte sich dann aber 2019] hat in diesem Fall die Initiative ergriffen, aber ähnliche radikale politische Bewegungen kamen auch anderswo zum Ausdruck: in New York mit der Wahl von Bill de Blasio und seiner Beschwörung einer “Geschichte von zwei Städten” mit 73 Prozent der Stimmen und der Wahl von 24 unabhängigen Labour-Kandidaten in Lorain County, Ohio.

Ein ähnlicher Prozess hat sich in Argentinien vollzogen, wo eine trotzkistische Wahlfront bei den jüngsten Wahlen 1,2 Millionen Stimmen erhielt. Dies ergab sich aus der völlig veränderten Situation im Vergleich zu 2001. Damals waren die Parteien trotz einer katastrophalen Wirtschaftslage diskreditiert; insbesondere die marxistischen Parteien kamen kaum voran.

Diese Wahlen deuten darauf hin, dass sich die Situation völlig verändert hat, da sich die bewussteren Arbeiter*innen nun der Notwendigkeit von Organisationen und Parteien bewusst sind. Eine Schicht hat folglich ihre Hoffnungen auf diese “linke Front” übertragen, die sich in einer besonders günstigen Situation befindet, um zu wachsen, wenn sie die richtige Taktik und Offenheit gegenüber den neuen Schichten der Arbeiter*innenklasse anwendet, die in den kommenden Kämpfen nach einer eigenen Massenpartei suchen werden. Dies wird wahrscheinlich die Beibehaltung eines revolutionären Kerns – in einer eigenständigen und separaten Organisation – beinhalten, der eine breitere Basis in einer größeren Massenformation sucht. Es hat andere Gelegenheiten gegeben, die verloren gegangen sind, weil dieser offene Ansatz nicht gewählt wurde.

Der Blick auf Lenin

Millionen von Arbeiter*innen sind auf der Suche nach einem neuen Weg nach vorn. Dieser kann ihnen durch den Aufbau neuer Massenparteien der Arbeiter*innenklasse geboten werden. Aufgrund der Periode, die wir durchlaufen haben, ist es unwahrscheinlich, dass diese in den meisten Ländern sofort ein klares revolutionäres, marxistisches Programm annehmen werden. Aber eine marxistische Organisation, die ehrlich und offen arbeitet, wird von den besten Arbeiter*innen, die nach einem Weg nach vorn suchen, in ihren Reihen willkommen geheißen werden.

Leider werden Bücher wie dieses von Lars T. – und insbesondere diejenigen, die seine Ideen unkritisch loben – nicht in der Lage sein, die Arbeiter*innen auf die stürmische, aber aufregende Zeit vorzubereiten, die vor ihnen liegt. Es stellt die Ideen von Lenin nicht klar dar. Sie ignoriert in skandalöser Weise den Beitrag, den vor allem Trotzki geleistet hat.

Unsere Kritik beschränkt sich nicht nur auf die organisatorische Ebene. Der Autor erläutert die Ideen Lenins in Bezug auf die Perspektiven für die russische Revolution nicht hinreichend. Die zentrale Idee Lenins von der “demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft” unterschied sich von den Vorstellungen der Menschewiki, die eine kapitalistische Entwicklung Russlands sahen und den Sozialismus in die Ferne rückten. Lenin lehnte die Vorstellung völlig ab, dass die schwachen russischen Kapitalisten die Aufgaben der demokratischen kapitalistischen Revolution durchführen könnten: die Bodenreform, die Lösung der nationalen Frage, die Einführung der Demokratie usw. Nur ein Bündnis der Arbeiter*innen und Bäuer*innen, der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung Russlands, sei in der Lage, diese Aufgaben zu erfüllen.

Der Schwachpunkt in Lenins Szenario, den Lars T. in keiner Weise vollständig auslotet, ist die Frage, wer die dominierende Kraft in dem Bündnis zwischen Proletariat und Bauernschaft sein würde. Die gesamte Geschichte beweist, dass die Bauernschaft aufgrund ihrer Heterogenität nie eine eigenständige politische Rolle gespielt hat. Ihre oberen Schichten neigen dazu, mit den Kapitalisten zu verschmelzen; ihre unteren Schichten neigen dazu, in den Reihen der Arbeiter*innenklasse unterzugehen.

Hier setzt Trotzkis berühmte Theorie der permanenten Revolution an, die die Entwicklung der russischen Revolution richtig voraussah. Obwohl die Arbeiter*innenklasse eine Minderheit ist, würde sie aufgrund ihrer sozialen Stellung in der Gesellschaft und ihrer besonderen Merkmale, nämlich ihrer Dynamik und Organisation in der Großindustrie, in der Lage sein, die Masse der Bauernschaft in die Revolution zu führen, um die Autokratie zu stürzen. Nach ihrer Machtübernahme würde sie dann zu den Aufgaben der sozialistischen Revolution in Russland und der Welt übergehen. In Lenins Briefen aus der Ferne wie auch in seinen Aprilthesen stimmt er mit diesen Ideen Trotzkis völlig überein. Dies wird in diesem Buch nicht einmal erwähnt.

Das Buch von Lars T. Lih stellt zweifellos einen Fortschritt gegenüber den böswilligen Verzerrungen der Ideen von Lenin und Trotzki dar. Aber gleichzeitig wird es, wenn es nicht ergänzt und korrigiert wird, weitere Verwirrung darüber stiften, wofür Lenin und Trotzki wirklich standen.

Bücher Lenins im Manifest-Verlag: hier klicken

Leo Trotzki: Lenin

Ein Abriss seines Lebens von Leo Trotzki

1Lenin (Uljanow, Wladimir Iljitsch) (1870-1924) – Theoretiker und Politiker des Marxismus, Führer der Partei der Bolschewiki, Organisator der Oktoberrevolution in Russland, Begründer und Leiter der Sowjetrepublik und der Kommunistischen Internationale – wurde am 9./22. April des Jahres 1870 in der Stadt Simbirsk (jetzt umbenannt in Uljanowsk) geboren.

Der Vater Lenins (Ilja Nikolajewitsch) war bäuerlicher Herkunft, Pädagoge. Die Mutter, Maria Alexandrowna, geborene Berg [Blank], die Tochter eines Arztes.

Der ältere Bruder Lenins (geboren im Jahre 1866) schloss sich der Bewegung der Narodowolzen an, beteiligte sich an einem nicht erfolgreichen Anschlag auf das Leben Alexanders III. und wurde im 22. Lebensjahr hingerichtet.

Lenin, das dritte von sechs Kindern der Familie, beendete das Simbirsker Gymnasium im Jahre 1887 mit einer Goldmedaille. Die Hinrichtung des Bruders trat für immer in sein Bewusstsein ein und trug zur Bestimmung seines ferneren Schicksals bei.

Im Sommer des Jahres 1887 tritt Lenin der juristischen Fakultät der Kasaner Universität bei, wurde aber im Dezember jenes Jahres wegen Beteiligung an einer Studentenzusammenkunft ausgeschlossen und in das Dorf Kokuschkinо nahe Kasan auf ein Landgut des Großvaters (mütterlicherseits) verschickt. Seine Gesuche (im Jahre 1887) nach erneuter Aufnahme an der Kasaner Universität, wie auch nach Ausreise ins Ausland für die Fortführung der Bildung, stoßen auf Ablehnung. Im Herbst wird Lenin zur Rückkehr nach Kasan zugelassen, wo er auch das systematische Studium Marx‘ aufnimmt und erste Verbindung mit Mitgliedern des örtlichen marxistischen Zirkels anknüpft.

In Verlauf des Jahres 1891 besteht Lenin erfolgreich das Examen an der juristischen Fakultät der Petersburger Universität. Im Jahre 1892 schreibt er sich in Samara als vereidigter Hilfsanwalt ein. In dieses und das folgende Jahr fallen einige Auftritte Lenins bei Gericht in der Eigenschaft als Verteidiger. Jedoch den Hauptinhalt seines Lebens bildet bereits das Studium des Marxismus und dessen Anwendung zur Erforschung der wirtschaftlichen und politischen Entwicklungswege Russlands.

Im Jahre 1894 nach Petersburg umgezogen, knüpft Lenin Verbindung unter Arbeitern an und nimmt propagandistische Arbeit auf. In diese Periode gehören erste literarische Arbeiten Lenins, gerichtet gegen Narodniki und Fälscher des Marxismus, die in handgeschriebener Form von Hand zu Hand gingen. Im April des Jahres 1895 reist Lenin erstmals ins Ausland, mit dem Hauptziel eine Verbindung zur marxistischen Gruppe »Befreiung der Arbeit« (Plechanow, Sassulitsch, Axelrod ) zu errichten. Bei der Rückkehr nach Petersburg organisiert er den illegalen »Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse«, welcher sich schnell in eine beträchtliche Organisation verwandelt, propagandistische und agitatorische Arbeit unter Arbeitern und Studenten entfaltet und Verbindung mit den Provinzen anknüpft. Im Dezember des Jahres 1895 werden Lenin und seine nächsten Mitarbeiter arretiert. Das Jahr 1896 verbringt Lenin im Gefängnis, wo er am Studium der ökonomischen Entwicklungswege Russlands arbeitet. Im Februar des Jahres 1897 schickt man ihn zu dreijähriger Verbannung nach Ostsibirien, ins Jenissei-Gouvernement. In diese Zeiten (das Jahr 1898) gehört die Ehe Lenins mit N. K. Krupskaja, seiner Arbeitsgenossin im Sankt Petersburger Bund und seiner treue Mitarbeiterin im Verlauf der weiteren 26 Jahre des Lebens und des revolutionären Kampfes. In der Zeit der Verbannung schließt Lenin seine wichtigste ökonomische Arbeit »Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland« ab, die auf der methodischen Durcharbeitung eines riesigen statistischen Materials begründet ist (Petersburg, 1899).

Im Jahre 1900 reist Lenin mit dem Ziel in die Schweiz aus, im Ausland zusammen mit der Gruppe »Befreiung Arbeit«, die Herausgabe einer für Russland bestimmten revolutionären Zeitung zu organisieren. Zu Ende des Jahres erscheint bereits in München Nr. 1 der Zeitung »Iskra« mit dem Epigraph: »Aus einem Funken wird sich eine Flamme entzünden.« Ziel der Zeitung ist die Organisation einer zentralisierten revolutionäre Untergrundpartei der Sozialdemokraten, welche an der Spitze des Proletariats den Kampf mit dem Zarismus eröffnen und in ihn die unterdrückten Volksmassen und zuallererst die viele Millionen starke Bauernschaft einbeziehen würde.

In der bald von Lenin herausgegebenen Broschüre »Was tun?« wird die Idee einer Organisation eines zusammengeschlossenen Kaders von Berufsrevolutionären, die der Sache der Revolution restlos ergeben und durch eiserne innerliche Disziplin zusammengeschweißt sind, allseitig entfaltet.

Die Idee einer zentralisierten Parteiführung im Kampf des Proletariat in allen seinen Formen und Ausprägungen tritt bei Lenin eng in Verbindung mit der Idee der Hegemonie der Arbeiterklasse in der demokratischen Bewegung des Landes. Die Idee der Hegemonie wird Angelpunkt der Leninschen Weltanschauung und seines praktischen Kampfes und geht unmittelbar über in das Programm der Diktatur des Proletariats, als das Jahr 1905 und der Februar 1917 die Bedingungen für den Oktoberumsturz vorbereiten.

Der im Juli-August des Jahres 1903 einberufene II. Parteitag der SDAPR (Brüssel-London) nimmt das von Plechanow und Lenin ausgearbeitete Programm an, endet aber mit der historischen Spaltung der Partei in Bolschewiki und Menschewiki. Fortan nimmt Lenin seinen eigenständigen Weg als Führer der Fraktion, und danach der Partei, der Bolschewiki auf. Die in Fragen der Organisation der Partei begonnenen Differenzen vertiefen sich bald in der Frage der Beziehungen zum bürgerlichen Liberalismus auf der einen Seite, zur Bauernschaft auf der anderen. Die Menschewiki streben die Abstimmung der Politik des russischen Proletariats mit der liberalen Bourgeoisie an. Lenin sieht als nächste Alliierte des Proletariats die Bauernschaft. Episodische Annäherungen mit den Menschewiki halten die immer größere und größere Diskrepanz zweier Linien nicht auf: die revolutionäre und opportunistische, die proletarische und kleinbürgerliche. Im Kampf mit dem Menschewismus wird die Politik geschmiedet, die in der Folge den Bruch mit der II. Internationale (1914), die Oktoberrevolution (1917) und das Ersetzen der kompromittierten Bezeichnung Sozialdemokratische Partei durch Kommunistische (1918) bewirkte.

Die Niederlage der Armee und Flotte im russisch-japanischen Krieg, die Erschießung der Arbeiter am 9. Januar des Jahres 1905, Agrarunruhen und politische Streiks schaffen eine revolutionäre Situation im Lande. Das Programm Lenins ist: Vorbereitung auf den bewaffneten Aufstand der Massen gegen des Zarismus, Schaffung einer provisorischen revolutionären Regierung, die die revolutionär-demokratische Diktatur der Arbeiter und Bauern für die radikale Säuberung des Landes vom Zarismus, der Leibeigenschaft und überhaupt jedem mittelalterlichen Plunders organisieren soll. In Übereinstimmung damit wird auf dem allein aus Bolschewiki zusammengesetzten III. Parteitag der Partei (Mai des Jahres 1905) das neue Agrarprogramm der Konfiszierung des Gutsbesitzer- und Zarenlandes angenommen.

In Oktober des Jahres 1905 beginnt der allrussische Streik. Am 17. Oktober erlässt der Zar das »Verfassungs«-Manifest. Anfang November kehrt Lenin aus Genf nach Russland zurück und ruft im ersten Artikel die Bolschewiki auf, die Verbindung mit dem neuen Umfeld die Organisation auszuweiten, zur Partei weite Kreise von Arbeitern heranzuziehen, aber den illegalen Apparat beizubehalten, in Voraussicht auf die unausbleiblichen Schläge der Konterrevolution. Im Dezember geht der Zarismus zum Gegenangriff über. Der Aufstand in Moskau Ende Dezember, ohne Unterstützung der Armee, ohne gleichzeitigen Aufstand in anderen Städten und ohne ausreichendes Echo im Dorf, wird bald niedergeschlagen.

In den Ereignissen des Jahres 1905 stellt Lenin drei Momente auf: zeitweilige Eroberung der tatsächlichen, d.h. nicht vom Klassenfeind beschränkten politischen Freiheit, außer und ungeachtet aller bestehenden Gesetzen und Einrichtungen; [2)] Schaffung neuer, bisher noch potenzieller Organe revolutionärer Macht, in Form von Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten; 3) Anwendung von Volksgewalt gegenüber den Gewalttätern am Volke. Diese Schlussfolgerungen des Jahres 1905 werden leitende Prinzipien der Politik Lenins im Jahre 1917 werden und werden die Diktatur des Proletariats in Form des Sowjetstaats bewirken.

Die Niederlage des Dezemberaufstands in Moskau schiebt die Massen in den Hintergrund. Den Vordergrund nimmt die liberale Bourgeoisie ein. Es beginnt die Epoche der ersten zwei Dumas. Lenin formt in dieser Periode die Prinzipien der revolutionären Ausnutzung des Parlamentarismus in unmittelbarer Verbindung mit dem Kampf der Massen mit dem Ziele ihrer Vorbereitung auf eine neue Periode des Angriffs.

Im Dezember des Jahres 1907 reist Lenin aus Russlands aus, um erst im Jahre 1917 in es zurückzukehren. Es eröffnet sich die Epoche der siegreichen Konterrevolution, der Verfolgung, Verbannung, Hinrichtungen, Emigration. Lenin führt den Kampf gegen alle Strömungen des Verfalls im revolutionären Milieu: gegen die Menschewiki, die die Liquidierung (daher »Liquidatoren«) der Untergrundpartei und den Übergang zu rein legaler Tätigkeit im Rahmen des pseudokonstitutionellen Systems predigen; gegen die »Versöhnler«, die die Gegensätzlichkeit von Bolschewismus und Menschewismus nicht verstanden und versuchten eine Mittelposition einnehmen; gegen das Abenteurertum der Sozialrevolutionäre, die versuchten durch individuellen Terror die unzureichende Aktivität der Massen zu ersetzen; schließlich gegen das Sektierertum eines Teils der Bolschewiki, der sogenannten »Otsowisten«, die die Abberufung der Sozialdemokraten aus der Duma im Namen des unmittelbaren revolutionären Handelns forderten, für welches die Lage keine Möglichkeiten eröffnete. In dieser dumpfen Epoche zeigte Lenin die Verbindung zweier grundlegender seiner Eigenschaften: eine unversöhnliche revolutionäre grundlegenden Linie und fehlerloser Realismus bei der Auswahl der Methoden und Mittel.

Gleichzeitig führt Lenin auf breit angelegter Front einen Kampf gegen Versuche der Revision der theoretischen Grundlage des Marxismus, auf welche sich dessen ganze Politik stützt. im Jahre 1908 schreibt er eine kapitale Studie, gewidmet den grundlegenden Fragen der Erkenntnis und gerichtet gegen die dem Wesen nach idealistische Philosophie Machs und Avenarius‘ und deren russische Anhänger, die versuchten, den Empiriokritizismus mit dem Marxismus zu vereinen, und in der Politik den Otsowismus durchführten. Gestützt auf die von ihm ausgeführte riesige wissenschaftliche Arbeit beweist Lenin, dass sich die Methoden des dialektischen Materialismus, wie sie Marx und Engels formulierten, vollständig als richtig erweisen in der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens allgemein, der Naturwissenschaften in Besonderheit. So ging bei Lenin der revolutionäre Kampf, der selbst kleine praktische Fragen nicht aus dem Blick ließ, immer Hand in Hand mit dem theoretischen Kampf, der sich bis selbst zu den höchsten Errungenschaften verallgemeinerndеn Denkens erhob.

Die Jahre 1912-1914 sind charakterisiert von einem neuen Aufschwung der Arbeiterbewegung in Russland. Im Regime der Konterrevolution offenbaren sich Risse. Am Anfang des Jahres 1912 beruft Lenin in Prag eine geheime Konferenz der russischen Organisation der Bolschewiki ein. Die »Liquidatoren« werden für außerhalb der Partei erklärt. Der Bruch mit dem Menschewismus nimmt abschließenden und unwiderruflichen Charakter an. Ein neues ZK wird gewählt. Lenin organisiert vom Ausland aus die Herausgabe der legalen Zeitung »Prawda« in Petersburg, welche in beständigem Kampf mit Zensur und Polizei leitenden Einfluss auf die fortgeschrittenen Arbeiter ausübt.

Im Juli des Jahres 1912 zieht Lenin mit seinen nächsten Mitarbeitern aus Paris nach Krakau, mit dem Ziel, seine Beziehungen zu Russland zu erleichtern. Der revolutionäre Aufschwung in Russlands wächst an und verschafft somit dem Bolschewismus einen Vorteil. Lenin schickt in lebhaften Beziehungen zu Russland beinahe täglich Artikel unter unterschiedlichen Pseudonymen an legale bolschewistische Zeitungen, wobei er die erforderlichen Schlussfolgerungen in der illegalen Presse vervollständigt. In dieser Periode, wie schon bisher, so auch später, steht N. K. Krupskaja im Zentrum der ganzen organisatorischen Arbeit, nimmt aus Russland ankommende Genossen in Empfang, gibt abfahrenden Instruktionen, stellt illegale Verbindungen her, schreibt konspirative Brief, chiffriert und dechiffriert. Im Juli des Jahres 1913 zieht Lenin um in das Örtchen Poronin (Galizien), noch näher an der Grenze. Hier überrascht ihn die Kriegserklärung. Die österreichische Polizei verdächtigt Lenin als russischen Spion, arretiert ihn, lässt ihn aber nach zwei Wochen frei und weist ihn in die Schweiz aus.

Eine neue breite Bahn in der Arbeit Lenins beginnt und erhält sofort eine internationale Spannweite. Ein von Lenin am 1. November im Namen der Partei veröffentlichtes Manifest bestimmt den imperialistischen Charakter des Krieges und die Schuld aller Großmächte an ihm, die vor langer Zeit den blutigen Kampf um die Ausweitung der Märkte und den Ruin der Konkurrenten vorbereiteten. Die patriotische Agitation der Bourgeoisie beider Lager, die die Schuld einander aufbürden, erklärt er zum Manöver zum Übertölpeln der Arbeitermassen. Das Manifest konstatiert den Übergang der Mehrheit der europäischen sozialdemokratischen Führer auf die Position der Verteidigung der vaterländischen Bourgeoisie, die Nichterfüllung der Beschlüsse der internationalen sozialistischen Kongresse durch sie und den Zusammenbruch der II. Internationale. Aus dem Blickwinkel der russischen Sozialdemokraten, erklärt das Manifest, wäre die Niederlage des Zarismus das günstigste Ergebnis des Krieges. Die Niederlage »ihrer« Regierung sollte die Losung der Sozialdemokraten aller Länder sein.

Lenin unterzog nicht nur den Sozialpatriotismus, sondern auch verschiedene Schattierungen des Pazifismus einer gnadenlosen Kritik, welcher vom Frieden schwärmend vor dem Krieg kapituliert und sich mit platonischen Protesten befassend auf revolutionären Kampf mit dem Imperialismus verzichtet.

Die Theoretiker und Politiker der II. Internationale verschärften alte Anschuldigungen Lenins des Anarchismus. in der Tat findet in der ganzen theoretischen und praktischen Arbeit Lenins, sowohl vor als auch nach dem Jahre 1914, ein Kampf nicht nur mit dem Reformismus statt, welcher sich zum Beginn des Krieges in Rückhalt für die imperialistische Politik der besitzenden Klassen verwandelte, sondern auch mit dem Anarchismus und allgemein mit allen Spielarten des revolutionären Abenteurertums.

Am 1. November des Jahres 1914 stellt Lenin das Programm zur Schaffung einer neuen Internationale auf, welcher »die Aufgabe bevor[steht], die Kräfte des Proletariats zu organisieren zum revolutionären Ansturm gegen die kapitalistischen Regierungen, zum Bürgerkrieg gegen die Bourgeoisie aller Länder für die politische Macht, für den Sieg des Sozialismus.«

Im September des Jahres 1915 versammelt sich in Zimmerwald (Schweiz) die erste Konferenz europäischer Sozialisten, die in Opposition zum imperialistischen Krieg stehen (ganze 31 Menschen). Der linke Flügel der Zimmerwalder und danach der Kienthaler Konferenz war, unter Führung Lenins, der grundlegende Kern der künftigen Kommunistischen Internationale, deren Programm, Taktik und Organisation unter Führung Lenins ausgearbeitet wurden. Von ihm wurden unmittelbar die Entscheidungen die ersten vier Kongresse der Komintern inspiriert.

Auf seinen Kampf im internationalen Maßstabе war Lenin nicht nur durch seine allgemeine tiefe Bildung auf marxistischer Basis, nicht nur durch seine Erfahrung des revolutionären Kampfes und Parteiaufbaus in Russland vorbereitet, sondern auch durch die detaillierte Bekanntschaft mit der Weltarbeiterbewegung. Er beobachtete im Verlauf einer langen Reihe Jahre unmittelbar das innere Leben der wichtigsten kapitalistischen Staaten. Lenin sprach gut die englische, deutsche und französische Sprache und las auch italienisch, schwedisch, polnisch. Eine realistische Vorstellungskraft und politische Intuition erlaubten ihm nicht selten aus einzelnen Erscheinungen das Bild der Gesamtheit zu rekonstruieren. Immer und unveränderlich war Lenin gegen eine mechanische Übertragung der Methoden eines Landes auf ein anderes, er betrachtete und löste Fragen der revolutionären Bewegung nicht nur in ihrer internationalen Interdependenz, sondern auch in ihrer nationalen Konkretheit.

Die Februarrevolution des Jahres 1917 trifft Lenin in der Schweiz an. Seine Versuche, nach Russland zu fahren, prallen auf den entschlossenen Widerstand der britischen Regierung. Lenin entscheidet, den Gegensatz der kriegführenden Länder zu nutzen und nach Russland über Deutschland zu fahren. Der Erfolg seines Plans gibt den Feinden Anlass zu einer ungestümen Verleumdungskampagne, welche jedoch bereits nicht mehr die Kraft hat, zu verhindern, dass Lenin Haupt der Partei, aber bald auch Haupt der Revolution wird.

In der Nacht des 4. April, unmittelbar beim Verlassen des Waggons, tritt Lenin auf dem Finnischen Bahnhof mit einer Rede mit den grundlegenden Gedanken auf, welche er in den nächsten Tagen wiederholt und entfaltet. Der Sturz des Zarismus, sagt Lenin, war bloß die erste Etappe der Revolution. Die bürgerliche Revolution kann die Massen bereits nicht mehr zufrieden stellen. Die Aufgabe des Proletariat ist, sich zu bewaffnen, die Bedeutung der Sowjets zu verstärken, das Dorf aufzuwecken und sich auf die Eroberung der Macht im Namen der sozialistischen Neuordnung der Gesellschaft vorzubereiten.

Das weitgehende Programm Lenins erweist sich nicht nur als unannehmbar für die Gestalten des patriotischen Sozialismus, sondern ruft auch Widerspruch im Umfeld der Bolschewiki selbst hervor. Plechanow nennt das Programm Lenins »Fieberwahn.« Aber Lenin baut seine Politik nicht auf Stimmungen zeitweiliger Führer der Revolution auf, sondern auf den Wechselbeziehungen der Klassen und der Logik der Massenbewegung. Er sagt vorher, dass der Anstieg des Misstrauens zur Bourgeoisie und zur provisorischen Regierung mit jedem Tag anwachsen wird, dass die Partei der Bolschewiki eine Mehrheit in den Sowjets erreichen wird und dass die Macht auf sie wird übergehen müssen. Die kleine Tageszeitung »Prawda« wird fortan in seinen Händen ein mächtiges Werkzeug zum Sturz der bürgerlichen Gesellschaft.

Die Politik der Koalition mit der Bourgeoisie, die die patriotischen Sozialisten durchgeführt haben, und die von den Alliierten erzwungene hoffnungslose Offensive der russischen Armee an der Front rufen die Massen wach und bewirken in Petrograd bewaffnete Demonstrationen in den ersten Julitagen. Der innere Kampf wird scharf. Am 5. Juli veröffentlicht die Spionageabwehr plump fabrizierte »Dokumente«, die bezeugen sollen, dass Lenin im Auftrag des deutschen Generalstabs handelt. Am Abend trafen von Kerenski von der Front herbeigerufene »zuverlässige« Abteilungen und Junker aus der Umgebung Petrograds ein, welche die Stadt einnahmen. Die Bewegung war niedergeschlagen. Die Hetzjagd gegen Lenin erreichte den Höhepunkt. Er ging in die Illegalität, verbarg sich zuerst in Petrograd, danach in Finnland und behielt beständige Verbindung mit den leitenden Elementen der Partei bei.

Die Julitage und die folgende Vergeltung rufen einen heftigen Aufschwung in den Massen herbei. Die Voraussicht Lenins rechtfertigt sich auf der ganzen Linie. Die Bolschewiki erhalten eine Mehrheit in den Sowjets Petrograds und Moskaus. Lenin verlangt entschlossenes Handeln für die Eroberung der Macht und eröffnet von seiner Seite einen unversöhnlichen Kampf gegen die Schwankungen an den Spitzen der Partei. Er schreibt Artikel, Broschüren, offizielle und private Briefe, unterzieht darin die Frage der Eroberung der Macht einer Beleuchtung von allen Seiten, entkräftet Einwendungen, zerstreut Bedenken. Er zeichnet die unausbleibliche Verwandlung Russlands in eine ausländische Kolonie bei Fortführung der Politik Miljukow-Kerenskis und sagt die bewusste Übergabe Petrograds an die Deutschen mit dem Ziel einer Niederlage des Proletariats durch sie voraus. »Jetzt oder niemals!« wiederholt er in leidenschaftlichen Artikeln, Briefen und Gesprächen.

Den Aufstand gegen die provisorische Regierung, der auf Druck Lenins nach einer Entscheidung des ZK für den 10. Oktober geplant wurde, verzögerte der Lauf der Dinge auf den 25. Oktober. An diesem Tag zeigt sich Lenin erstmals nach dreieinhalb Monaten Aufenthalt im Untergrund im Smolny, von wo er unmittelbar den Kampf leitet. In der Nacht zum 27. tritt er in der Sitzung des Sowjetkongresses mit einem Dekretentwurf über den Frieden (einhellig angenommen) und dem Dekret über den Grund und Boden (angenommen mit allen gegen eine Stimme bei acht Enthaltungen) auf. Die bolschewistische Mehrheit des Kongress, mit Unterstützung der Gruppe der Linken SRler, erklärte den Übergang der Macht auf die Sowjets. Der Rat der Volkskommissare mit Lenin als Haupt wird ernannt. Von der Waldhütte, in der Lenin sich vor der Verfolgung verbarg, geht er unmittelbar auf den Gipfel der Macht über.

Der proletarische Umsturz greift schnell im Lande um sich. Die Sowjets werden Herren der Lage in Stadt und Dorf. Unter diesen Umständen erweist sich die am 5. Januar zusammengekommene Konstituierende Versammlung als klarer Anachronismus. Ein Konflikt zwischen zwei Etappen der Revolution ist vorhanden. Lenin zögert nicht für eine Minute. In der Nacht des 7. Januar nimmt das WZEK nach dem Bericht Lenins, das Dekret über die Auflösung der Konstituierenden Versammlung an. Die Diktatur des Proletariat, lehrt Lenin, kennzeichnet ein Maximum an tatsächlichem, aber nicht formellen Demokratismus für die werktätige Mehrheit, weil sie sie mit der realen Möglichkeit versorgt, Freiheiten zu nutzen, indem sie alle jene materiellen Güter (Gebäude für Versammlungen, Druckereien und andere) in die Hände der Werktätigen übergibt, ohne welche »Freiheit« hohler Schall und Illusion bleibt. Die Diktatur des Proletariats ist nach Lenin eine erforderliche Stufe zur Vernichtung der Klassengesellschaft.

Die Frage von Krieg und Frieden rief neue Krisen der Partei und Macht hervor. Ein bedeutender Teil der Partei rief zum »revolutionären Krieg« gegen die Hohenzollern auf und nahm dabei weder Rücksicht auf die wirtschaftliche Lage des Landes noch auf die Stimmung der Bauernschaft. Lenin hielt das Hinauszögern der Verhandlungen mit den Deutschen zu agitatorischen Zielen so lange wie möglich für erforderlich, forderte jedoch, dass im Falle eines Ultimatums auf deren Seite der Frieden zumindest um den Preis territorialer Zugeständnisse und Kontributionen unterschrieben werde: Raum abtreten, um Zeit zu gewinnen, – die sich im Westen entfaltende Revolution annulliert früher oder später die schweren Friedensbedingungen. Der politische Realismus Lenins zeigte sich in dieser Frage in seiner ganzen Kraft. Die Mehrheit des Zentralkomitees macht – gegen Lenin – noch den Versuch, »den Kriegszustand für eingestellt zu erklären, aber zur gleichen Zeit die Unterzeichnung des imperialistischen Friedens abzulehnen.« Dies bewirkt die Wiederaufnahme der deutschen Offensive. Nach erbitterter Debatte im ZK auf der Sitzung am 18. Februar erkämpft Lenin die Mehrheit für seinen Vorschlag der unverzüglichen Erneuerung der Verhandlungen und des Unterschreibens der noch mehr erschwerten deutschen Bedingungen.

Die Sowjetregierung zieht auf Initiative Lenins nach Moskau um. Nach erreichtem Frieden brachte Lenin Fragen des wirtschaftlichen und kulturellen Aufbaus vor Partei und Land.

Wie immer stellt er die Fragen scharf: »nötig ist nicht Selbstbetrug … Nötig ist, jenen ganzen Abgrund der Niederlage, Zerstückelung, Versklavung, Erniedrigung völlig, bis zum Boden zu vermessen, in den sie uns nun stießen. Je klarer wir das verstehen werden, umso härter, abgehärteter, stählerner wird unser Wille zur Befreiung werden …«

Aber die schwersten Prüfungen stehen noch bevor. Die konterrevolutionäre Bewegung naht aus den Randgebieten. Im Nordkaukasus formieren sich weißgardistische Armeen. SRler und Menschewiki verschärfen ihre feindselige Aktivität. Am Ende des Sommer Jahres 1918 ist Zentralrussland von einem konterrevolutionärem Ring eingekreist.

Hand in Hand mit der vaterländischen Konterrevolution geht an der Wolga der Aufstand der Tschechoslowaken, im Norden und Süden ist die Intervention der Engländer (2. August – Archangelsk, 14. August – Baku). Die Zufuhr an Lebensmittels hört auf. Unter diesen an Schwierigkeiten beispiellosen Bedingungen, als es schien, dass es keinen Ausweg gebe, entfernt sich Lenin nicht auf eine Stunde vom Steuer der Partei und des Staates. Er gibt Einschätzungen jeder neuen Gefahr, weist auf Wege der Rettung hin, agitiert auf Versammlungen und in der Presse, zieht aus den Arbeitermassen immer neue und neue Kräfte heraus, organisiert den Feldzug der Arbeiter auf dem Dorfe für Brot, leitet die Schaffung der ersten Kriegsabteilungen, verfolgt auf der Karte die Bewegungen des Feindes, verbindet sich durch direkte Leitung mit jungen Abteilungen der Roten Armee, kümmert sich im Zentrum um ihre Bewaffnung und Ausrüstung, verfolgt die internationale Lage, orientiert sich über die Widersprüche im Lager der Imperialisten, und findet ebenfalls Zeit für aufmerksame Gespräche auch mit den ersten ausländischen Revolutionären, die auf sowjetischem Boden eintreffen, und mit sowjetischen Ingenieuren aus Anlass des Elektrifizierungsplans, neuer Methoden der Ausnutzung von Torf, der Entwicklung eines Netzes von Radiostationen usw. usf.

Am 30. August lauert die SRlerin Kaplan Lenin am Eingang des Raums zu einem Arbeitermeeting auf und gibt auf ihn zwei Schüsse ab. Dieser Anschlag erbittert den Bürgerkrieg. Der feste Organismus Lenins wird schnell mit den Verletzungen fertig. In den Tagen der Genesung schreibt er die Broschüre »Die Proletarische Revolution und der Renegat Kautsky«, gerichtet gegen den prominentesten Theoretiker der II. Internationale. Am 22. Oktober tritt er bereits mit einer Rede auf.

Der Krieg an den inneren Fronten bleibt nach wie vor der Hauptinhalt seiner Arbeit. Wirtschaftliche und administrative Probleme nehmen gemäß der Notwendigkeit einen dienstlichen Platz ein. Der von außen genährte Bürgerkrieg ist in vollem Gange. Nur dank der titanischen Energie Lenins, seiner Scharfsicht und seines unerschütterlichen Willens zum Kampf endete er (am Anfang des Jahres 1921) mit der vollen Niederschlagung der Konterrevolution. Die Staatsorganisation erstarkt. Die strenge Schule des Bürgerkriegs stellt abgehärtete Kader von Organisatoren auf.

Die Oktoberrevolution betrachtete Lenin immer unter der Perspektive der europäischen und Weltrevolution. Der Umstand, dass der Krieg nicht einen unmittelbaren sozialistischen Umsturz in Europa bewirkte, trieb Lenin zu Anfang des Jahres 1921 an, auf neue Weise Fragen des innerlichen wirtschaftlichen Regimes zu stellen. Der sozialistische Aufbau ist unmöglich ohne Vereinbarungen zwischen Proletariat und Bauernschaft. Deshalb muss die Partei das vom Bürgerkrieg hervorgerufene Regime des »Kriegskommunismus« radikal umbauen, die Beschlagnahmung des »Überschusses« bei den Bauern durch richtig geleistete Steuern ersetzen und privaten Warenaustausch annehmen. Diese von Lenin bei voller Anteilnahme der ganzen Partei durchgeführten Maßnahmen, eröffneten eine neue Bahn in der Entwicklung der Oktoberrevolution, unter dem Name »Neue Ökonomische Politik.«

In seiner Politik innerhalb der Sowjetunion verhält sich Lenin mit größter Aufmerksamkeit zur Lage der unter dem Zarismus unterdrückten Nationalitäten, und strebt mit allen Mitteln, für sie Bedingungen freier nationaler Entwicklung zu schaffen. Lenin führt einen gnadenlosen Kampf gegen alle Ausprägungen von Großmachttendenzen im Staatsapparat, umso mehr innerhalb der Partei. Anschuldigungen der nationalen Unterdrückung, die gegen Lenins und seine Partei aus dem Exil von Georgiern und anderen vorgebracht wurden, werden in der Tat nicht durch den nationalen Kampf, sondern durch scharfe Zusammenstöße von Klassen innerhalb von Nationen hervorgerufen.

Das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung, welches sich in der westeuropäischen Arbeiterbewegung ausschließlich auf nationale Minderheiten sogenannter Kulturländer erstreckte, und auch dann nur halbherzig, dehnt Lenin mit ganzer Entschlossenheit auf die Kolonialvölker aus, und setzt sich für die Verteidigung ihres Rechts auf volle Lostrennung von den Metropolen ein. Das westeuropäische Proletariat muss nach Lenins Lehre den deklarativen Ausdruck der Sympathie für unterdrückte Nationen ablehnen und zum gemeinsamen Kampf mit ihnen gegen den Imperialismus übergehen.

Auf dem VIII. Sowjetkongress (1921) berichtet Lenin über die auf seine Initiative ausgeführte Arbeit zur Erstellung eines Elektrifizierungsplans des Landes. Der allmähliche Aufschwung auf die höchste Stufe der Technik gibt das Pfand des erfolgreichen Übergangs von der kleine bäuerlichen Warenwirtschaft mit ihren Zersplitterung zur von einem Plan umfassten sozialistischen Großproduktion, »Sozialismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung.«2

Durch übermäßige Arbeitsanspannung im Verlauf vieler Jahre herbeigerufene Überanstrengung untergrub die Gesundheit Lenins. Sklerose sucht die Blutgefäße des Gehirns heim. Zu Anfang des Jahres 1922 untersagen ihm die Ärzte die tägliche Arbeit.

Im Juni-August entfaltet sich die Krankheit Lenins; es beginnt der Verlust der Sprachfähigkeit. Anfang Oktober verbessert sich die Gesundheit derart, dass Lenin von neuem zur Arbeit zurück kehrt, aber bereits nicht für lange. Seine letzte öffentliche Rede schließt Lenin mit dem Ausdruck der Zuversicht darüber ab, dass als Resultat beharrlicher kollektiver Arbeit »aus dem NEP-Russland das sozialistische Russland wird ….«

Am 16. Dezember beginnt die Lähmung der rechten Hand und des rechten Beins. Jedoch im Januar-Februar diktiert Lenin noch eine Reihe von Artikel, die große Wichtigkeit für die Politik der Partei haben: über den Kampf mit dem Bürokratismus im Sowjet- und Parteiapparat, über die Bedeutung der Genossenschaften für die allmähliche Gewinnung der Bauern für die sozialistische Wirtschaft und schließlich über die Politik in Beziehung auf die Nationalitäten, welche unter dem Zarismus unterdrückt waren.

Die Krankheit machte Fortschritte. Erneut begann der Verlust der Sprachfähigkeit. Die Arbeit für die Partei hörte auf, aber bald hörte auch das Leben auf. Lenin verstarb am 21. Januar des Jahres 1924 um 6 Uhr 30 abends in Gorki, nahe Moskau. Seine Beisetzung war eine beispiellose Manifestation der Liebe und Trauer von Million. Die Einheit der Ziele trug Lenin über sein ganzes Leben, beginnend mit der Schulbank. Er kannte keine Schwankungen im Kampf mit jenen, welche er als Feinde der Arbeiterklasse erachtete. In seinem leidenschaftlichen Kampf war niemals etwas Persönliches. Er verstand sich als Werkzeug eines unabwendbaren historischen Prozesses. Die materialistische Dialektik als Methode wissenschaftlicher Orientierung in der gesellschaftlichen Entwicklung verband Lenin mit der größten Intuition eines Führers.

Das Äußere Lenins stach durch Schlichtheit und Festigkeit bei mittlerem oder ein wenig niedriger als mittlerem Wuchs heraus, mit plebejischen Linien des slawischen Gesichts, das von durchdringenden Augen erleuchtet wurde und dessen kräftige Stirn in die Kuppel eines noch kräftigегen Schädels überging, was ihm ungewöhnlich herausragende Bedeutsamkeit verlieh. Die Unermüdlichkeit Lenins bei der Arbeit war beispiellos. Sein Denken war gleich angespannt in der sibirischen Verbannung, im britischen Museum oder in einer Sitzung des Rat der Volkskommissare. Mit äußerster Gewissenhaftigkeit hielt er Vorträge im kleinen Arbeiterzirkel in Zürich und baute den ersten sozialistischen Staat der Welt auf. Wissenschaft, Kunst, Kultur schätzte und liebte er in ihrem ganzen Umfang, vergaß aber niemals, dass sie den Besitz einer unbedeutenden Minderheit bilden. In der Schlichtheit seines literarischen und rednerischen Stils drückte sich die größte Konzentriertheit der auf ein einziges Ziel gerichteten geistigen Kräfte aus. Im persönlichen Umgang war Lenin ausgeglichen, freundlich, aufmerksam, besonders zu den Unterdrückten, zu den Schwachen, zu Kindern. Seine Lebensweise im Kreml unterschied sich wenig von seiner Lebensweise in der Emigration. Schlichtheit des Alltags, Enthaltsamkeit in Beziehung auf Nahrung, Trinken, Kleidung und ganz allgemein »die Güter« des Lebens entflossen bei ihm nicht aus irgendwelchen moralistischen Prinzipien, sondern aus jenem Faktum, dass Geistesarbeit und angespannter Kampf nicht nur seine Interessen und Leidenschaften verschlang, sondern ihm auch höchste Befriedigung gab, die keinen Platz für Surrogatgenüsse lässt. Sein Denken arbeitete an der Sache der Befreiung der Werktätigen bis zu dem Augenblick, wo es abschließend erlosch.

Zwei Tories über einen Revolutionär

(Churchill und Birkenhead über Lenin)

3In den Jahren 1918-1919 versuchte Churchill, Lenin mit bewaffneter Kraft zu stürzen. 1929 versuchte Churchill, eine psychologische und politische Charakteristik Lenins zu geben (Times, 18. 2. 29). Es ist möglich, dass es sich um einen Versuch der literarischen Revanche für die erfolglose Militärintervention handelt. Das Missverhältnis zwischen Methoden und Ziel ist im zweiten Falle nicht weniger offensichtlich als im ersten. »Seine (Lenins) Sympathien sind kalt und gewaltig wie der Arktische Ozean. Sein Hass ist straff wie eine Henkersschlinge«, und so weiter und so fort, im gleichen hochtrabenden Stil. Churchill stemmt Antithesen wie ein Athlet Gewichte. Aber das aufmerksame Auge kann sehen, dass die Gewichte aus Blech sind, und der Bizeps mit Watte gepolstert ist. In der lebendigen Gestalt Lenins fand sittliche Kraft Ausdruck in völliger Schlichtheit. Ein Versuch, sich Lenin mit Jahrmarktsathletik bewaffnet zu nähern, ist im Voraus verurteilt.

Ebenso kläglich bei Churchills ist die faktische Seite. Es genügt, auf die Chronologie zu verweisen. Churchill wiederholt die irgendwo gelesene Phrase über den großen Einfluss der Hinrichtung von dessen älteren Bruders auf die Entwicklung Lenins. Laut Churchill geschah dies im Jahre 1894. In der Tat wurde der Anschlag auf Alexander III. am 1. März 1887 von Alexander Uljanow organisiert. Laut Churchill war Lenin 1894 16 Jahre alt. Tatsächlich war Lenin damals 24 Jahre alt, und leitete eine Untergrundorganisation in St. Petersburg. Zur Zeit der Oktoberrevolution war Lenin nicht 39 Jahre alt, wie es bei Churchill erscheint, sondern 47 Jahre. Die chronologischen Schnitzer Churchills zeigen, wie vage er sich die Epoche und die Menschen vorstellt, von denen er spricht,.

Wenn wir von der Chronologie und dem Boxer-Stil zur Philosophie der Geschichte übergehen, wird das Bild noch erbärmlicher.

Churchill erzählt uns, dass die Disziplin in der russischen Armee nach der Februarrevolution durch den »Befehl Nr. 1« zerstört worden sei, der das Salutieren abschaffte. So sahen beleidigte alte Generale und ambitionierte junge Leutnants auf die Sache. Aber das ist Unsinn. Die alte Armee spiegelte die Herrschaft der alten Klassen wider. Die alte Armee wurde von der Revolution getötet. Wenn der Bauer den Gutsbesitzer vom Gut verjagte, konnte der Sohn des Bauern sich nicht dem Sohn des Gutsbesitzers in dessen Eigenschaft als Offizier unterwerfen. Die Armee ist nicht nur eine technische Organisation, die durch Marschieren und Salutieren verbunden ist, sondern eine moralische Organisation, basierend auf bestimmten Wechselbeziehungen zwischen Menschen und Klassen. Wenn die alten Beziehungen mit Revolutionen in die Luft fliegen, kommt die Armee unausweichlich ums Leben. So war es immer. Mir ist nicht klar, ob Churchill jemals die Geschichte der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts oder der französischen Revolution des 18. Jahrhunderts gelesen hat. Beim Rekrutieren seiner Offiziere sagte Cromwell: »Ein unerfahrener Soldat, aber ein guter Prediger.« Cromwell verstand, dass die Grundlagen der Armee nicht durch die Symbolik der Etikette geschaffen und zerstört werden, sondern durch soziale Wechselbeziehungen zwischen Menschen. Ihm waren Offiziere nötig, die die Monarchie, die katholische Kirche und die Privilegien des Adels hassten. Er verstand, dass nur um neuer großer Ziele willen eine neue Armee wachsen konnte. Das war in der Mitte des XVII. Jahrhunderts. Churchill im XX. Jahrhundert glaubt, dass die zaristische Armee durch die Abschaffung gewisser symbolischer Körperbewegungen zugrunde gerichtet wurde. Ohne Cromwell und seine Armee gäbe es kein zeitgenössisches England. Noch heute ist Cromwell unvergleichlich zeitgenössischer als Churchill.

Das Ziel Lenins, sagt Churchill, war es, »jede Autorität und Disziplin zu untergraben.« Die Rundköpfe sagten das gleiche über die Independenten. Tatsächlich zerstörten die Independenten die veraltete Disziplin, um sie durch eine andere zu ersetzen, die England zur Blüte brachte. Lenin untergrub, zerstörte und sprengte erbarmungslos die alte, dunkle, blinde, sklavische Disziplin des Mittelalters, um die Arena für die bewusste Disziplin der neuen Gesellschaft zu säubern. Wenn Churchill bei Lenin immerhin Gedanken- und Willenskraft anerkennt, dann gab es Lenin nach Birkenhead überhaupt nicht. Es gibt nur einen Mythos über Lenin (Times, 26. 2. 29). Der reale Lenin war eine Mittelmäßigkeit, auf den die Kollegen Lord Raingos auf Bennetts Seiten von oben herabsehen konnten. Trotz dieser Meinungsverschiedenheiten ähneln die beiden Tories einander darin, dass sie nicht den kleinsten Begriff weder von Lenins wirtschaftlichen, noch von seinen politischen noch von seinen philosophischen Arbeiten haben, die mehr als zwei Dutzend Bände umfassen. Ich vermute, dass Churchill sich nicht einmal die Mühe gemacht hat, sorgfältig den Artikel über Lenin zu lesen, den ich 1926 für die Encyclopedia Britannica geschrieben habe. Andernfalls hätte er sich nicht der schwersten chronologischen Fehler schuldig machen können, die die gesamte Perspektive verletzen.

Was Lenin nicht ertrug, war Ideenschlamperei. Lenin lebte in allen Ländern Europas, beherrschte Fremdsprachen, las, studierte, hörte, ergründete, verglich, verallgemeinerte. Als er an der Spitze eines revolutionären Landes war, ließ er keine Gelegenheit aus, gewissenhaft und sorgfältig zu lernen. Er ließ nicht nach, das Leben der ganzen Welt zu verfolgen. Er las und sprach frei Deutsch, Französisch, Englisch, er las Italienisch und eine Reihe slawischer Sprachen. In den letzten mit Arbeit angefüllten Jahren seines Lebens studierte er in den freien Minuten heimlich tschechische Grammatik, um unmittelbaren Zugang zum Innenleben der Tschechoslowakei zu erhalten. Was wissen Churchill und Birkenhead über die Arbeit dieses durchdringenden, bohrenden, unermüdlichen Geistes, der alles Äußerliche, Zufällige, Oberflächliche im Namen des Grundlegenden und Hauptsächlichen verwarf? In seiner glücklichen Unwissenheit stellt sich Birkenhead vor, dass Lenin nach der Revolution vom Februar 1917 erstmals die Losung »Macht den Sowjets« vorgebracht habe. Indessen stellte die Frage nach den Sowjets und ihrer möglichen historischen Rolle das zentrale Thema der Werke Lenins und seiner Mitarbeiter seit 1905 und sogar früher dar.

Birkenhead ergänzt und korrigiert Churchill und erklärt, dass, wenn Kerenski auch nur eine Unze Staatssinn und Mut gehabt hätte, die Sowjets nie die Macht erlangt hätten. Wahrhaft eine tröstliche Geschichtsphilosophie! Die Armee wird dadurch zerstört, dass es den Soldaten erlaubt wird, bei der Begegnung mit einem Leutnant nicht die Hand zu heben. Das Fehlen einer Unze unter dem Schädel eines radikalen Advokaten reicht aus, eine fromme und zivilisierte Gesellschaft zu zerstören. Was ist diese Zivilisation wert, wenn sie in der kritischen Minute keine zusätzliche Unze Gehirn zur Verfügung hat?

Aber Kerenski stand doch nicht allein. Er war umringt von Staatsmännern der Entente. Warum haben sie Kerenski nicht unterrichtet, inspiriert, oder ihn ersetzt? Darauf antwortet Churchill indirekt. Nach seinen Worten »erklärten die Staatsmänner der Ententenationen, dass alles zum Besten gehe und dass die russische Revolution ein großer Vorteil für die gemeinsame Sache sei.« Damit bezeugt Churchill, dass die Staatsmänner nichts von der russischen Revolution verstanden und sich daher wenig von Kerenski unterschieden.

Birkenhead sieht jetzt auch keinen besonderen Weitblick Lenins bei der Unterzeichnung des Brest-Litowsker Friedens4. Die Unvermeidlichkeit des Friedens ist jetzt für Birkenhead offensichtlich. Nur wahnsinnige Hysteriker (hysterical fools) könnten sich, nach seinen Worten vorstellen, dass die Bolschewiki fähig seien, mit Deutschland Krieg zu führen, eine beeindruckende, wenn auch späte Anerkennung! Schließlich hat die britische Regierung im Jahre 1918, wie alle Regierungen der Entente, von uns kategorisch einen Krieg mit Deutschland gefordert, und auf unsere Verweigerung dieses Krieges mit Blockade und Intervention geantwortet. Wir müssen in der energischen Sprache des konservativen Politikers fragen: Wo befanden sich dann die wahnsinnigen Hysteriker? Haben sie nicht über das Schicksal Europas entschieden? Birkenheads Einschätzung wäre im Jahre 1917 sehr scharfblickend gewesen. Aber, zugegeben, wir schätzen die Einsicht nicht hoch, die sich 12 Jahre nachdem sie notwendig war zeigt.

Churchill führt gegen Lenin – und darin liegt der Dreh- und Angelpunkt seines Artikels – Statistiken über Opfer des Bürgerkriegs an. Diese Statistiken sind fantastisch. Aber die Sache geht nicht darum. Opfer gab es viele auf beiden Seiten. Churchill merkt besonders an, dass er die Opfer von Hunger und Epidemien nicht einbezogen habe. In seiner pseudoathletischen Sprache schreibt Churchill, dass weder Tamerlan noch Dschingis Khan ein Match gegen Lenin bezüglich der Ausrottung menschlicher Leben hätten ausfechten können. Nach der Anordnung der Namen zu urteilen, glaubt Churchill offensichtlich, dass Tamerlan Dschingis Khan vorausgegangen sei. Das ist ein Fehler. Leider stellen die Ziffern der Chronologie und Statistik nicht die starke Seite dieses Finanzministers dar. Jedoch interessiert uns nicht das. Um ein Beispiel für die Massenausrottung menschlichen Lebens zu finden, wendet sich Churchill dem XIII. und XIV. Jahrhundert der asiatischen Geschichte zu. Der große europäische Krieg, bei dem zehn Millionen Menschen getötet und zwanzig Millionen verstümmelt wurden, ist anscheinend völlig aus dem Gedächtnis des britischen Politikers verschwunden. Die Kriege von Dschingis Khan und Timur waren ein Kinderspiel im Vergleich zu den Übungen der zivilisierten Nationen im Verlauf der Jahre 1914-1918. Und die Blockade Deutschlands, die Hungersnot deutscher Mütter und Kinder? Auch wenn man den unsinnigen Gedanken übernimmt, dass die gesamte Verantwortung für den Krieg beim deutschen Kaiser liege – welch gute Zivilisation, sagen wir, in der ein gekrönter Psychopath fähig ist, den Kontinent vier Jahre lang mit Feuer und Schwert heimzusuchen –, selbst wenn man diese unsinnige Theorie der alleinigen Verantwortung des Kaisers akzeptierte, auch dann bliebe es völlig unverständlich, warum deutsche Kinder zu Hunderttausenden für die Sünden Wilhelms wegsterben mussten? Aber ich nehme hier keinen moralischen Blickwinkel ein, und bin am wenigsten von allem geneigt, die Waagschale in Richtung von Hohenzollern-Deutschland zu verschieben. Ich bin bereit, den gleichen Gedankengang in Beziehung auf serbische, belgische oder französische Kinder zu wiederholen wie in Beziehung auf jene gelben und schwarzen Kinder, die Europa im Verlauf von vier Jahren die Vorteile der christlichen Zivilisation gegenüber der Barbarei von Dschingis und Timur gelehrt hat. All das vergisst Churchill. Die Ziele, die England im Krieg verfolgt hat (und die es überhaupt nicht erreicht hat), erscheinen Churchill dermaßen unverzichtbar und heilig, dass er dreißig Millionen vernichteten und verstümmelten menschlichen Leben keine Aufmerksamkeit widmet. Er spricht mit höchster sittlicher Empörung über die Opfer des Bürgerkriegs in Russland und vergisst Irland, Indien und viele andere. Folglich geht die Sache nicht um die Opfer, sondern um die Aufgaben und Ziele, die der Krieg verfolgte. Churchill möchte sagen, dass alle Opfer in allen Teilen der Erde zulässig und heilig sind, wenn die Sache um die Macht und Stärke des Britischen Empire, also seiner herrschenden Klassen, geht. Verbrecherisch sind nur die unermesslich kleineren Opfer, die durch den Kampf der Volksmassen verursacht werden, wenn sie versuchen, die Bedingungen ihrer Existenz zu ändern, wie es in England im XVII. Jahrhundert war, in Frankreich Ende des XVIII. Jahrhunderts, in den Vereinigten Staaten Ende des XVIII. und Mitte des XIX. Jahrhunderts, in Russland im XX. Jahrhundert und wie es in der Zukunft viele Male sein wird. Vergeblich rief Churchill das Gespenst der zwei asiatischen Eroberer herbei. Beide kämpften für die Interessen einer nomadischen Aristokratie und unterwarfen ihr neue Gebiete und Stämme. In diesem Sinne ist ihre Sache folgerichtig durch eine ununterbrochene Kontinuität mit den Prinzipien Churchills, aber nicht Lenins verbunden. Nebenbei gesagt hat der letzte der großen Humanisten – sein Name ist Anatole France – mehr als einmal den Gedanken geäußert, dass von allen Arten des blutigen Wahnsinns, der als Krieg bezeichnet wird, der am wenigsten Wahnsinnige immer noch der Bürgerkrieg ist, weil sich in ihm die Menschen zumindest bewusst und nicht auf Befehl in feindliche Lager aufteilen.

Churchill macht gleichzeitig noch einen Fehler, den wichtigsten und für ihn persönlich den tödlichsten. Er vergisst, dass es im Bürgerkrieg, wie auch in jedem anderen, zwei Lager gibt und dass, wenn er, Churchill, nicht dem Lager der winzigen Minderheit beigetreten wäre, die Zahl der Opfer unermesslich geringer gewesen wäre. Die Macht eroberten wir im Oktober fast ohne Kampf. Kerenskis Versuch, die Macht zurückzugewinnen, verdampfte wie ein Wassertropfen auf einem heißen Ofen … Der Ansturm der Massen war so mächtig, dass die alten Klassen kaum Widerstand zu leisten wagten. Zu welcher Zeit begann der Bürgerkrieg und sein Begleiter – der Rote Terror? Churchill ist schlecht in Chronologie, aber wir helfen ihm. Der Wendepunkt ist Mitte 1918. Geführt von Diplomaten und Offizieren der Entente nehmen die Tschechoslowaken die Eisenbahn im Osten ein. Der französische Botschafter Noulens organisiert eine Rebellion in Jaroslawl. Der englische Kommissar Lockhart organisiert Terrorakte und den Versuch, die Wasserleitung Petrograds zu zerstören. Churchill inspiriert und finanziert Sawinkow. Churchill steht hinter Judenitschs Rücken. Churchill sagt genau auf den Kalendertag den Fall von Petrograd und Moskau voraus. Churchill unterstützt Denikin und Wrangel. Die Geschütze der britischen Flotte bombardieren unsere Küsten. Churchill bläst die Trompete zum Angriff der »14 Nationen.« Churchill wird zum Inspirator, Organisator, Finanzier und Propheten des Bürgerkriegs. Ein großzügiger Finanzier, ein mittelmäßiger Organisator, ein zu nichts nützlicher Prophet. Es wäre besser für Churchill gewesen, wenn er diese Seiten der Vergangenheit nicht aufschlagen hätte. Denn die Zahl der Opfer wäre hunderte oder tausende Male geringer gewesen, wenn es nicht britische Guineas, britische Geschütze, britische Panzer, britische Offiziere und britische Konserven gegeben hätte.

Churchill verstand weder Lenin noch seine historische Aufgabe. Das tiefste Unverständnis – wenn nur ein Unverständnis tief sein kann – findet sich in der Bewertung der Wende zur Neuen Ökonomischen Politik. Für Churchill ist es Lenins Absage an sich selbst. Birkenhead fügt hinzu: In 10 Jahren sind die Prinzipien der Oktoberrevolution völlig bankrott gegangen. Birkenhead, der in 10 Jahren die Arbeitslosigkeit der Kohlebergarbeiter nicht beseitigt oder auch nur gemildert hat, fordert, dass wir in zehn Jahren eine neue Gesellschaft aufbauen, ohne Fehler, ohne Niederlagen oder Rückzüge. Es ist eine monströse Forderung, die nur die Tiefe der theoretischen Primitivität des achtbaren Konservativen misst. Wie viele Rückzüge, Fehler und Rückfälle es auf dem historischen Weg geben wird, ist unmöglich vorherzusagen,. Aber durch Rückzüge, Rückfälle und Zickzacks hindurch die Hauptlinie der historischen Entwicklung sehen zu können – darin bestand auch die geniale Kraft Lenins. Selbst wenn in Russland für eine Zeit die Restauration siegte – was, wie ich zu sagen wage, sehr weit weg ist – hätte das so wenig Auswirkungen auf die Unvermeidlichkeit der Veränderung sozialer Formen wie Erbrechen die Gesetze der Verdauung aufhebt.

Als die Stuarts an die Macht zurückkehrten, hatten sie viel mehr Recht zu denken, dass die Prinzipien Cromwells bankrott gegangen seien. Indessen ist trotz der siegreichen Restauration, trotz ganzen fortgesetzten Kette von Flut und Ebbe, des Kampfes der Whigs und Tories, der Freihändler und Protektionisten eines unbezweifelbar: das ganze neue England ging auf Cromwells Hefe auf. Dieser historische Sauerteig begann sich erst im letzten Viertel des letzten Jahrhunderts zu erschöpfen. Dies erklärt den unaufhaltsamen Rückgang der Weltrolle Englands. Um das fallende England wiederzubeleben, braucht man neue Hefe. Kein Churchill versteht das. Denn im Gegensatz zu Lenin, der in Kontinenten und Epochen dachte, denkt Churchill in parlamentarischen Effekten und Zeitungsfeuilletons. Und das ist tödlich wenig. Die Zukunft, und die nicht so ferne, wird das beweisen.

23. März 1929

L. Trotzki

1 verfasst für die Encyclopedia Britannica, eigene Übersetzung nach dem russischen Text, veröffentlicht in dem Sammelband »Porträts von Revolutionären {Портреты революционеров}, 1991, S. 22-33

2 ungenau zitiert. Bei Lenin: »Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes« [d. Übers.]

3 Eigene Übersetzung nach dem russischen Text, verglichen mit der englischen und französischen Übersetzung. Die englischen und französischen Übersetzungen unterscheiden sich so stark, dass nur die größten Abweichungen kenntlich gemacht wurden

4 Ich werde mich nicht dabei aufhalten, dass Birkenhead mir den Wunsch nach einem Krieg mit Deutschland im Jahr 1918 zuschreibt. Der achtbare Konservative folgt hier zu sehr den Anweisungen der Historiker aus der Schule Stalins. – L.T.

Leo Trotzki: Wie Lenin Marx studierte

Von Leo Trotzki

Leider hat niemand erzählt, wie Lenin die Schule Marxens absolvierte. Nur einzelne äußerliche Eindrücke haben sich erhalten, und auch die sind sehr dürftig. „Ganze Tage“, schreibt Jassnewa, „saß er über Marx, machte Konspekte, Auszüge, Notizen. Dann konnte man ihn nur schwer von der Arbeit losreißen.“ Seine Konspekte des Kapital sind uns nicht erhalten geblieben. Nur gestützt auf seine Arbeitshefte späterer Jahre kann man die Arbeit des jungen Athleten an Marx rekonstruieren. Schon seine Gymnasialaufsätze begann Wladimir unweigerlich mit einem durchgearbeiteten Plan, um ihn dann nach und nach mit Argumenten und Zitaten auszustatten. In dieser Arbeitsmethode kam jene Eigenschaft zum Ausdruck, die Ferdinand Lassalle treffend „physische Kraft des Denkens“ nannte. Auch das Studium beinhaltet, wenn es nicht mechanisches Büffeln ist, einen schöpferischen Akt, aber umgekehrter Art. Das Konspektieren des Buches eines anderen ist die Bloßlegung seines logischen Skeletts, das der Argumente, Illustrationen und Abschweifungen entkleidet wird. Wladimir bewegte sich auf seinem schweren Weg mit freudiger Intensität vorwärts, konspektierte jedes gelesene Kapitel, manchmal jede Seite, und überdachte und überprüfte dabei die logische Struktur, die dialektischen Übergänge, die Termini. Während er sich das Resultat aneignete, assimilierte er die Methode. Er schritt die Stufen eines fremden Systems empor, als errichtete er sie von neuem. Alles wurde fest und sicher gelagert in diesem wunderbar organisierten Kopf mit der mächtigen Kuppel des Schädels.

Tiefe Überzeugung

An der russischen politökonomischen Terminologie, die er sich in der Samarer Periode angeeignet oder ausgearbeitet hatte, hielt Lenin sein ganzes übriges Leben lang fest. Und nicht nur aus Hartnäckigkeit – obwohl ihm intellektuelle Hartnäckigkeit im höchsten Maße eigen war –, sondern deshalb, weil er schon in frühen Jahren seine Wahl nach reiflicher Überlegung traf, nachdem er jeden Terminus von allen Seiten besehen und in seinem Bewusstsein mit einem ganzen Zyklus von Begriffen verbunden hatte. Der erste und der zweite Band des Kapital waren in Alakajewka und Samara die wesentlichsten Lehrbücher Wladimirs; der dritte Band war damals noch nicht herausgekommen: der alte Engels war eben erst dabei, die nachgelassenen Manuskripte von Marx zu ordnen. Wladimir studierte das Kapital so gründlich, dass er jedes mal, wenn er dieses Buch wieder zur Hand nahm, in ihm neue Gedanken entdeckte. Schon in der Samarer Periode hatte er, wie er sich später ausdrückte, gelernt, sich mit Marx zu „beraten“.

Angesichts der Bücher des Lehrers wichen Frechheit und Spottlust ganz von selbst aus diesem unersättlichen Geist, der zu höchstem Pathos der Anerkennung fähig war. Die Entwicklung der Marxschen Gedanken zu verfolgen, an sich selbst ihren unwiderstehlichen Ansturm zu erleben, in den eingeschalteten Sätzen oder Bemerkungen ganze Serien von zusätzlichen Schlussfolgerungen zu entdecken, sich jedes mal von der Treffsicherheit und Tiefe eines Sarkasmus zu überzeugen und sich vor dem gegen sich selbst rücksichtslosen Genius dankbar zu verneigen, das war für ihn nicht nur ein Bedürfnis, sondern ein Genuss. Marx hatte keinen besseren Leser, keinen, der aufmerksamer miterlebte, keinen besseren, keinen scharfsinnigeren, dankbareren Schüler.

„Der Marxismus war bei ihm nicht Überzeugung, sondern Religion“, schreibt Wodowosow, „bei ihm … fühlte man einen Grad von Überzeugtheit, der … mit wirklichem wissenschaftlichem Wissen unvereinbar ist.“ Wissenschaftlich ist nur die Soziologie, die das Recht des Philisters, zu schwanken, unangetastet lässt. Gewiss, Wodowosow gibt zu: Uljanow „interessierte sich sehr für Einwände gegen den Marxismus, studierte sie und dachte darüber nach“, aber das alles „nicht, um die Wahrheit zu suchen“, sondern nur, um in den Einwänden den Fehler zu entdecken, von dessen Vorhandensein er von vornherein überzeugt war. An dieser Charakteristik ist eines richtig: Uljanow hatte sich den Marxismus als Ergebnis der vorhergehenden Entwicklung des menschlichen Denkens zu eigen gemacht; er wollte von der erreichten höchsten Stufe nicht auf eine niedrigere herabsteigen; er verteidigte mit unbändiger Energie, was er durchdacht und täglich überprüft hatte; und er war misstrauisch gegen die Versuche selbstzufriedener Hohlköpfe und belesener Mittelmäßigkeiten, den Marxismus durch eine andere, handlichere Theorie zu ersetzen.

Auf dem Gebiet der Technik oder der Medizin werden Rückständigkeiten, Dilettantismus und Hokuspokus mit Recht verachtet. Auf dem Gebiet der Soziologie geben sie sich durch die Bank als Freiheit des wissenschaftlichen Geistes. Für wen eine Theorie nur eine Spielerei des Verstandes ist, der kommt leicht von einer Offenbarung zur anderen, und noch öfter gibt er sich mit einem Potpourri aus allen Offenbarungen zufrieden. Unvergleichlich anspruchsvoller, strenger und solider ist der, für den die Theorie eine Anleitung zum Handeln ist. Ein Salonskeptiker kann sich über die Medizin ungestraft lustig machen. Der Chirurg kann in einer Atmosphäre wissenschaftlicher Ungewissheit nicht leben. Je notwendiger für den Revolutionär eine Theorie ist, auf die er sich bei seinem Handeln stützen kann, desto unversöhnlicher beschützt er sie. Wladimir Uljanow verachtete Dilettantismus und hasste Hokuspokus. Am höchsten schätzte er am Marxismus die disziplinierende Macht der Methode.

Marxismus und russische Revolution

1893 erschienen die letzten Bücher von W. Woronzow (W.W.) und N. Danielson (Nikolaj-on). Beide Narodniki-Ökonomisten bewiesen mit beneidenswerter Hartnäckigkeit, daß eine bürgerliche Entwicklung in Russland unmöglich sei, und das zur selben Zeit, da der russische Kapitalismus sich zu einem besonders stürmischen Aufschwung anschickte. Die damaligen, farblos gewordenen Narodniki haben die verspäteten Offenbarungen ihrer Theoretiker wohl kaum mit solcher Aufmerksamkeit gelesen wie der junge Samarer Marxist. Die Kenntnis der Gegner war für Uljanow nicht nur für die literarische Widerlegung notwendig. Er suchte vor allem die innere Überzeugung für den Kampf. Gewiss, er studierte die Wirklichkeit polemisch und richtete nunmehr alle Beweise gegen die überlebte Volkstümelei; aber niemandem lag reine Polemik so fern wie dem künftigen Verfasser von 27 Bänden polemischer Werke. Er hatte das Bedürfnis, das Leben zu kennen, wie es wirklich ist.

Je näher Wladimir an die Probleme der russischen Revolution heranging, desto mehr lernte er bei Plechanow und desto größer wurde seine Hochachtung für die von ihm geleistete kritische Arbeit. Die neuesten Fälscher der Geschichte des Bolschewismus sprechen von einer „Urzeugung des Marxismus auf russischem Boden, ohne direkten Einfluss einer ausländischen Gruppe und Plechanows“ (Pressnjakow) – man müsste hinzufügen: auch von Marx selbst, diesem Emigranten par excellence – und machen Lenin zum Begründer dieses daheim geborenen, wahrhaft russischen „Marxismus“, aus dem sich später die Theorie und Praxis des „Sozialismus in einem einzelnen Land“ entwickeln soll.

Die Lehre von einer Urzeugung des Marxismus als unmittelbare „Widerspiegelung“ der kapitalistischen Entwicklung Russlands ist schon an und für sich die übelste Karikatur des Marxismus. Die wirtschaftlichen Prozesse spiegeln sich nicht im „reinen“ Bewusstsein in all seiner naturbelassenen Unwissenheit, sondern in einem historischen Bewusstsein, das bereichert ist durch alle Errungenschaften der menschlichen Vergangenheit. Der Klassenkampf der kapitalistischen Gesellschaft konnte Mitte des 19. Jahrhunderts nur deshalb zum Marxismus führen, weil er die dialektische Methode als Krönung der klassischen Philosophie in Deutschland, die politische Ökonomie von Adam Smith und David Ricardo in England, die revolutionäre und sozialistische Doktrin in Frankreich, die in der großen Revolution entstanden waren, bereits fertig vorfand. Der internationale Charakter des Marxismus ist somit schon in den Quellen seines Ursprunges begründet. Die Entwicklung des Kulakentums an der Wolga und der Metallurgie im Ural waren absolut unzureichend, um selbständig zum gleichen wissenschaftlichen Ergebnis zu kommen. Die „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ ist nicht zufällig im Ausland entstanden: der russische Marxismus erblickte das Licht der Welt nicht als automatisches Produkt des russischen Kapitalismus wie der Rübenzucker und das gebleichte Baumwollzeug (wofür man übrigens ebenfalls die Maschinen einführen musste), sondern in kompliziertem Zusammenspiel aller bisherigen Erfahrung des russischen revolutionären Kampfes und der im Westen entstandenen Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus. Die marxistische Generation der neunziger Jahre stand auf dem von Plechanow gelegten Fundament.

Wissenschaftliches Neuland

Um den historischen Beitrag Lenins richtig zu schätzen, ist es wirklich nicht notwendig, die Sache so darzustellen, als hätte er schon in jungen Jahren mit seinem Pflug jungfräuliches Neuland umackern müssen. „Verallgemeinernde Arbeiten“, schreibt nach Kamenjew und anderen auch Jelisarowa, „gab es fast nicht: Man musste die ursprünglichen Quellen studieren und auf sie gestützt seine Schlussfolgerungen aufbauen. Diese große und noch nicht in Angriff genommene Arbeit nahm in Samara Wladimir Iljitsch auf sich.“ Nichts ist beleidigender für die wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit Lenins als die Ignorierung der Arbeit seiner Vorgänger und Lehrer. Es ist nicht wahr, dass Anfang der neunziger Jahre der russische Marxismus keine verallgemeinernden Arbeiten besaß. Die Publikationen der „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ waren schon eine gedrängte Enzyklopädie der neuen Richtung. Nach sechs Jahren eines glänzenden und heroischen Kampfes gegen die Vorurteile der russischen Intelligenz verkündete Plechanow auf dem internationalen Sozialistenkongress in Paris: „Die revolutionäre Bewegung in Russland kann nur als revolutionäre Bewegung der Arbeiter triumphieren. Einen anderen Ausweg gibt es bei uns nicht und kann es nicht geben.“ Diese Worte enthielten die wichtigste Verallgemeinerung der ganzen vorhergehenden Epoche, und aus dieser „Emigranten“-Verallgemeinerung lernte Wladimir Uljanow an der Wolga.

Lenin und Plechanow

Wodowosow erinnert sich: „Über Plechanow sprach Lenin mit tiefer Sympathie, vor allem über Unsere Meinangsverschiedenheiten.“ Diese Sympathie musste sehr deutlich zum Ausdruck gekommen sein, wenn Wodowosow sie mehr als dreißig Jahre im Gedächtnis bewahren konnte. Die größte Stärke von Unsere Meinungsverschiedenheiten besteht darin, dass die Fragen der revolutionären Politik in diesem Buch in untrennbarem Zusammenhang mit der materialistischen Geschichtsauffassung und mit der Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands behandelt werden. Die ersten Stellungnahmen Uljanows in Samara gegen die Narodniki stehen somit in inniger Verbindung mit seiner begeisterten Äußerung über die Arbeit des Begründers der russischen Sozialdemokratie. Nach Marx und Engels war Wladimir mehr als allen anderen Plechanow verpflichtet.

Marxismus in Russland

Ende 1922 schrieb Lenin nebenbei über den Beginn der neunziger Jahre: „Der Marxismus begann sich als Richtung auszubreiten, indem er der beträchtlich früher in Westeuropa von der „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ verkündeten sozialdemokratischen Richtung entgegenkam.“ Diese Zeilen, die die Entwicklungsgeschichte einer ganzen Generation resümieren, enthalten ein Stückchen Autobiographie von Lenin selbst: nachdem er mit der marxistischen Richtung als ökonomische und historische Doktrin begonnen hatte, wurde er unter dem Einfluss der Ideen der „Gruppe der Befreiung der Arbeit“, die in hohem Maße die Entwicklung der russischen Intelligenz bestimmte, Sozialdemokrat. Nur Arme im Geiste können sich einbilden, dass sie Lenin dadurch ehren, dass sie seinem leiblichen Vater, dem Wirklichen Staatsrat Uljanow, revolutionäre Anschauungen zuschreiben, die er niemals hegte, und gleichzeitig die revolutionäre Rolle des Emigranten Plechanow verschweigen, den Lenin selbst als seinen geistigen Vater betrachtete.

In Kasan, in Samara, in Alakajewka fühlte sich Wladimir vor allem als Schüler. Aber ebenso wie der Pinsel großer Künstler schon in deren Jugend die eigene Handschrift erkennen lässt, selbst wenn sie die Bilder alter Meister kopieren, so entfaltete Wiadimir Uljanow als Schüler eine solche Kraft des Forschens und der Initiative, dass es schwerfällt, den Grenzstrich zu ziehen zwischen der Bewältigung des Fremden und dem, was er selbständig erarbeitete. Im letzten Jahr seiner Vorbereitung in Samara verschwindet diese Grenze endgültig: der Schüler wird zum Forscher.

Der Streit mit den Narodniki erstreckte sich natürlich auch auf die Einschätzung der konkreten Prozesse: entwickelt sich der Kapitalismus in Russland weiter oder nicht? Die Tabellen der Fabrikschornsteine und der Industriearbeiter erhielten eine tendenziöse Bedeutung, ebenso wie die Tabellen der Klassenscheidung innerhalb der Bauernschaft. So wurde die Wirtschaftsstatistik zur Wissenschaft der Wissenschaften. Die Zahlenkolonnen bargen den Schlüssel zur Enträtselung des Schicksals Russlands, seiner Intelligenz und seiner Revolution. Die von den Militärbehörden periodisch durchgeführten Pferdezählungen waren dazu berufen, Antwort zu geben auf die Frage, wer stärker ist: Marx oder die russische Dorfgemeinschaft.

Das statistische Material der ersten Arbeiten Plechanows konnte nicht sehr reichlich sein: die Semstwo-Statistik, die einzige, die für das Studium der Ökonomie des Dorfes von Wert war, entwickelte sich erst im Laufe der achtziger Jahre; überdies waren ihre Publikationen für einen in diesen Jahren fast restlos von Russland abgeschnittenen Emigranten schwer zugänglich. Dennoch wurde die allgemeine Richtung der wissenschaftlichen Bearbeitung der statistischen Daten von Plechanow vollkommen richtig gewiesen. Die ersten Statistiker der neuen Schule beschritten seinen Weg. Der amerikanische Professor I.A. Gurwitsch, der aus Russland stammte, veröffentlichte 1888 und 1892 zwei Untersuchungen über das russische Dorf, die Wladimir Uljanow sehr schätzte und von denen er lernte. Er selbst ließ niemals eine Gelegenheit vorübergehen, um seiner Dankbarkeit für die Arbeit seiner Vorgänger Ausdruck zu verleihen. […]

Wladimir hatte offenbar vom Vater die Fähigkeit geerbt, sich leicht mit Menschen verschiedener sozialer Kategorien und mit verschiedenem Niveau zu unterhalten. Ohne dass er sich langweilte oder sich Gewalt antun musste und oft ohne vorgefasstes Ziel, mit unbezähmbarer Neugier und einem fast untrüglichen Instinkt, verstand er es, aus jedem zufälligen Gesprächspartner das herauszuholen, was er selbst brauchte. Daher hörte er so fröhlich zu, wo die anderen sich langweilten, und keiner in seiner Umgebung erriet, dass hinter dem schnarrenden Geplauder eine große unterbewusste Arbeit steckte. Eindrücke wurden gesammelt und sortiert, die Speicher des Gedächtnisses füllten sich mit unschätzbarem Material, die kleinen Tatsachen dienten zur Überprüfung großer Verallgemeinerungen. So verschwanden die Schranken zwischen dem Buch und dem Leben, und Wladimir begann schon damals, den Marxismus zu verwenden, wie der Zimmermann Säge und Axt.

Quelle: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1936/junglenin/kap15.htm