Wir veröffentlichen hier zwei Artikel zum Nahost-Konflikt, ein Artikel von Sascha Stanicic (Sol, CWI in Deutschland) und einen Artikel von Hannah Sell (Socialist Party, CWI in England & Wales), sowie ein Flugblatt der Sozialistischen Offensive und der Sol zum Thema.
Sozialistischer Zugang zum Nahost-Konflikt: Ein- oder Zwei-Staaten-Lösung, Existenzrecht Israels und Selbstbestimmungsrecht
Dauerhafter Frieden und echte Selbstbestimmung auf kapitalistischer Basis nicht möglich
Auf der Linken wird leidenschaftlich darüber diskutiert, wie die Unterdrückung der Palästinenser*innen beendet werden und wie ein Ausweg aus dem so genannten Nahost-Konflikt aussehen kann. Kontrovers diskutieren unterschiedliche linke Kräfte über die Fragen einer „Ein-Staaten-Lösung“ oder „Zwei-Staaten-Lösung“, über das so genannte „Existenzrecht Israels“ und den Charakter der israelisch-jüdischen Bevölkerung. Gruppen wie marx21 sprechen sich explizit für eine „Ein-Staaten-Lösung“ und gegen das so genannte „Existenzrecht Israels“ aus.
Wir sind der Meinung, dass diese Positionen als Absage an das Selbstbestimmungsrecht der israelisch-jüdischen Bevölkerung verstanden werden müssen und deshalb in letzter Konsequenz der nationalen Spaltung der Arbeiter*innenklasse in der Region nicht entgegenwirken, sondern diese sogar vertiefen.
von Sascha Staničić, Sol (CWI in Deutschland)
In den Debatten wird oft darauf hingewiesen, dass „durch die fortgesetzte Siedlungspolitik jede Aussicht auf eine territoriale Einheit eines palästinensisches Staates (schwindet)“ und dass „unter solchen Bedingungen (…) weder ein gleichberechtigter palästinensischer Staat neben Israel entstehen noch so die Grundlage für eine dauerhafte Beilegung des Konflikts in der Region gelegt werden (kann)“ und ein möglicher palästinensischer Rumpfstaat „ökonomisch kaum überlebensfähig“ wäre.
Als „Ursprungsproblem“ wird oftmals die „ethnische Teilung Palästinas“ benannt, welche überwunden werden müsse, um eine Lösung des Nahost-Konflikts zu erreichen. Die Schlussfolgerung ist: „Dies ist nur möglich, wenn ein gemeinsamer, weltlicher und demokratischer Staat geschaffen wird, in dem Juden, Muslime und Christen mit gleichen Rechten zusammenleben können.“
Klassenfrage
Diese Analyse ignoriert die klassenpolitische Dimension des Nahost-Konflikts, die aus unserer Sicht das „Ursprungsproblem“ der ethnischen Teilung determiniert. Israel ist ein Vorposten des westlichen Imperialismus im Nahen Osten zur Durchsetzung imperialistischer Interessen. Die israelische Bourgeoisie braucht die nationale Spaltung in der Region und auch die wiederkehrenden militärischen Auseinandersetzungen mit den Palästinenser*innen, um ihre eigene Herrschaft im Staat Israel gegenüber der „eigenen“ Arbeiter*innenklasse aufrechtzuerhalten. Und auch die herrschenden arabischen Eliten haben ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Konflikts, weil auch sie dadurch von ihrer eigenen Verantwortung für gesellschaftliche Missstände ablenken können.
Wenn wir über die „Bedingungen“ des Nahostkonflikts sprechen, dürfen wir deshalb nicht nur die ethnische Teilung benennen, sondern müssen die dahinter liegenden Interessen offenlegen.
Die Sol geht davon aus, dass der Staat Israel nicht einfach militärisch besiegt werden kann und dass auf Basis der Macht der israelischen Bourgeoisie in Israel und der palästinensischen Eliten aus Großgrundbesitzern, Unternehmern und PLO- und Hamas-Bürokratie im Westjordanland und dem Gaza-Streifen eine Lösung des Nahost-Konflikts unmöglich ist. Das bedeutet, dass Trägerin einer Lösung die Arbeiter*innenklasse und die unterdrückten Schichten beider Nationen sein müssen, dass also dem Aufbau von Kämpfen, Bewegungen und Arbeiter*innenorganisationen – sowohl dem berechtigten Widerstand der Palästinenser*innen gegen die Besatzung als auch Klassenkämpfen in Israel – eine zentrale Bedeutung zukommen und dass jeder erfolgversprechende Vorschlag für eine Lösung Teil einer sozialistischen Perspektive sein muss.
Zwei-Staaten-Lösung weit weg
Angesichts der aktuellen Ereignisse erscheint ein friedliches Zusammenleben der beiden Völker in weite Ferne gerückt. Viele Menschen – israelische Jüdinnen und Juden genauso wie Palästinenser*innen – halten eine Zwei-Staaten-Lösung nicht mehr für durchsetzbar. Das war einmal anders. Es ist noch nicht lange her, da genoss diese Idee in beiden Völkern eine mehrheitliche Unterstützung. Eine Annäherung ist also möglich. Aber wie soll diese erreicht werden?
Israelisch-jüdische Arbeiter*innenklasse
Auch diese Frage ist nur zu beantworten, wenn man eine Klassenperspektive einnimmt. Ein massenhafter Widerstand der Palästinenser*innen kann die Sympathie und Unterstützung von israelisch-jüdischen Arbeiter*innen erreichen, wenn er sich nicht gegen Zivilist*innen, sondern gegen die Besatzungsorgane richtet und einen klassenpolitischen Appell an die israelisch-jüdische Arbeiter*innenklasse richtet.
Zu diesem Schluss muss man kommen, wenn man die Rolle der israelisch-jüdischen Arbeiter*innenklasse betrachtet. Nur wenn diese, oder zumindest große Teile von ihr, von ihrer eigenen Regierung und Staat weggebrochen werden können, wird die Besatzungspolitik des Staates Israel zu besiegen sein.
Es ist richtig, um mit Marx zu sprechen, dass die Arbeiter*innenklasse einer unterdrückenden Nation nur selber frei werden kann, wenn sie sich gegen diese Unterdrückung stellt. Eine Voraussetzung für eine Lösung des Nahost-Konflikts ist, dass sich in der israelisch-jüdischen Arbeiter*innenklasse die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts für die Palästinenser*innen durchsetzt. Dies zu erreichen ist jedoch schwierig, denn die israelisch-jüdische Arbeiter*innenklasse ist zwar einerseits Opfer der Klassenherrschaft einer israelisch-jüdischen Bourgeoisie und verschärfter Angriffe auf soziale Rechte, Löhne, Arbeitsbedingungen, aber fühlt sich gleichzeitig in ihrer Sicherheit bedroht durch den nationalen Konflikt. Das Bedrohungsgefühl – verstärkt durch Raketenbeschuss und aktuell den Terrorangriff vom 7. Oktober – treibt die israelisch-jüdischen Arbeiter*innen immer wieder in die Arme “ihres” Staates, der vorgibt, ihren Schutz zu garantieren. Auch wenn Raketenbeschüsse und der Terrorangriff der Hamas letztlich auch Ergebnis der Politik der israelischen Regierung sind und diese das größte Sicherheitsproblem für die israelisch-jüdische Bevölkerung darstellt, muss eine linke Strategie für eine Lösung des Nahost-Konflikts dieses Bedrohungsgefühl der israelisch-jüdischen Arbeiter*innenklasse berücksichtigen.
Selbstbestimmungsrecht
Eine Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts für die Palästinenser*innen in der israelisch-jüdischen Bevölkerung kann deshalb unmöglich erreicht werden, wenn man dieser die Bildung eines „gemeinsamen“ Staates, in dem sie zur Minderheit würde, vorschlägt bzw. zur Bedingung macht. Denn formal gleiche Rechte in einem gemeinsamen Staat bedeuten für eine Minderheit möglicherweise nichts anderes als Benachteiligung und faktische Entrechtung. Das Schicksal der Tamil*innen auf Sri Lanka ist dafür ein gutes Beispiel.
Um also den Konflikt zu überwinden sind nach unserer Überzeugung folgende politische Faktoren nötig: erstens die gegenseitige Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts, also auch die Anerkennung des Rechts der israelisch-jüdischen Bevölkerung, einen eigenen Staat zu haben und zweitens die Betonung der gemeinsamen Klasseninteressen der israelisch-jüdischen und der palästinensischen Arbeiter*innen und Bäuerinnen/Bauern und drittens der Aufbau sozialistischer und gewerkschaftlicher Arbeiter*innenorganisationen auf beiden Seiten, die in Israel Arbeiter*innen beider Volksgruppen organisieren müssten. Das ist der notwendige Prozess, der in der Zukunft auch ein Zusammenleben in einem gemeinsamen Staat ermöglichen kann.
Existenzrecht Israels?
Bedeutet das nun, das „Existenzrecht Israels“ zu unterstützen? Stefan Bornost von marx21 schreibt dazu: „Die Definition Israels als ‚jüdischer Staat‘ – statt eines weltlichen Staats, in dem Juden und Araber gleichberechtigt zusammenleben -, führt automatisch zur Diskriminierung des arabischen Teils der Bevölkerung. Das Existenzrecht Israels, das grundsätzlich als Existenzrecht des jüdischen Charakters des Staates gedacht ist, rechtfertigt diese Diskriminierung.“ Und lehnt eine Zustimmung zum Existenzrecht Israels ab.
Es stimmt: der Staat Israel ist ein reaktionäres, imperialistisches und rassistisches Gebilde. Er hat eine religiös geprägte Verfasstheit und institutionalisiert die Diskriminierung der Palästinenser*innen. Aber das „Existenzrecht Israels“ wird gemeinhin nicht verstanden als politische Unterstützung für diesen Staat Israel in seiner gegenwärtigen Verfasstheit und politischen Ausprägung, sondern als Recht der Jüdinnen und Juden auf einen eigenen Staat in den Grenzen Israels von 1967. Dieses Selbstbestimmungsrecht der israelischen Nation, die sich seit der Staatsgründung 1948 entwickelt hat, sollten Marxist*innen unterstützen. Dieses mit dem Hinweis darauf zu negieren, dass der israelische Staat sich als „jüdischer Staat“ definiert bzw. als „kolonialer Siedler-Staat“ errichtet wurde, bedeutet die seit über 65 Jahren gewachsene Realität zu negieren. Mit einem ähnlichen Argument könnte man das „Existenzrecht“ der USA in Frage stellen, die ebenfalls als kolonialer Siedlerstaat begründet wurden. Die israelische Nation ist eine historisch gewachsene Realität, wie es die USA sind. Sie ist in Klassen gespalten und es ist Aufgabe von Sozialist*innen, die israelisch-jüdische Arbeiter*innenklasse zu gewinnen. Die Anerkennung ihres Selbstbestimmungsrechts ist dafür eine Voraussetzung, um ihre Unterstützung für den Kampf gegen die Besetzung und für die Rechte der Palästinenser*innen zu gewinnen.
Palästinensischer Widerstand
Der palästinensische Widerstand kann und soll nicht bis dahin abwarten, aber er sollte auf Massenmobilisierungen statt auf Stellvertreterpolitik durch Hamas oder Fatah setzen, um diesem Ziel näher zu kommen. Deshalb sprechen wir uns für eine sozialistische Intifada aus – einen Massenaufstand, wie den vom Ende der 1980er Jahre, aber mit sozialistischer Zielsetzung. Genauso wichtig ist es aber, den Klassenkampf in Israel voran zu treiben und hier die Voraussetzungen für einen gemeinsamen Kampf von israelischen Jüdinnen und Juden und Araber*innen zu nutzen. Tritt man an die israelisch-jüdische Arbeiter*innenklasse mit dem Vorschlag einer „Ein-Staaten-Lösung“ heran, wird es schwer fallen, Gehör für Vorschläge für gemeinsamen Widerstand zu bekommen.
Um aber gegenseitiges Vertrauen aufbauen zu können, müssen beide Seiten deutlich machen, dass sie das Recht der anderen Seite auf einen eigenen Staat akzeptieren. Das ist in der Praxis nicht von den herrschenden Eliten zu erwarten, sondern wäre nur durch den Aufbau einer sozialistischen Arbeiter*innenbewegung zu erreichen.
Aus dieser Perspektive heraus unterstützen wir das Recht des palästinensischen Volkes gegen Krieg, Besatzung und Belagerung Widerstand zu leisten und schlagen vor, diesen Widerstand massenhaft und demokratisch zu organisieren und ihn mit dem Kampf gegen Armut, Korruption und für eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft zu verbinden. Wir fordern ein Ende von Besatzung, Krieg und Siedlungsbau und treten in Israel für gemeinsame, multiethnische Verteidigungskomitees ein, die Schutz vor nationalistischen Übergriffen organisieren könnten.
Sozialismus
Wir schlagen die Bildung zweier sozialistischer Staaten in der Region vor, als eine Möglichkeit, einen Ausweg aus dem nationalen Konflikt in der Region zu finden. Natürlich gibt es viele Fragen, die durch die Formel zweier sozialistischer Staaten nicht automatisch gelöst sind. Aber sie können eben nur gelöst werden, wenn die Machtverhältnisse sich ändern und die Arbeiter*innenklassen beider Nationen in freie und demokratische Verhandlungen über diese komplizierten Fragen eintreten können. Dazu gehören unter anderem der Umgang mit den Siedlungen im Westjordanland, das Rückkehrrecht der vertriebenen Palästinenser*innen, die Frage von Minderheitenrechten (also dem Status von Jüdinnen und Juden in einem sozialistischen Palästina und von Araber*innen in einem sozialistischen Israel), der Status von Jerusalem als gemeinsamer Hauptstadt. Wenn eine israelische Arbeiter*innenregierung mit einer palästinensischen Arbeiter*innenregierung diese Fragen verhandeln könnte, kämen sie möglicherweise zu dem Ergebnis, einen gemeinsamen Staat zu bilden. Aber das kann nicht der Ausgangspunkt in sozialistischer Propaganda für die Überwindung des Nahostkonflikts sein, sondern kann nur das Ergebnis sein, wenn eine sozialistische Arbeiter*innenbewegung in der Region erfolgreich ist.
Das mag weit weg erscheinen. Aber es ist Aufgabe von Sozialist*innen zu sagen, was ist und darauf hinzuweisen, dass Konflikte wie im Nahen Osten vor allem eines deutlich machen: der Kapitalismus ist unfähig sie zu lösen – Sozialismus ist dringende Notwendigkeit geworden!
Der Text ist eine überarbeitete Fassung eines Artikels aus dem Jahr 2014.
Wie den Krieg im Nahen Osten stoppen?
Diskussionsbeitrag aus Großbritannien: 8 Fragen und Antworten
Von Hannah Sell, Generalsekretärin der Socialist Party (CWI in England und Wales)
Die Welt blickt mit Entsetzen auf die Belagerung des Gazastreifens. Seit den schrecklichen Angriffen der Hamas auf israelische Zivilist*innen führt der israelische Staat Luftangriffe auf den dicht besiedelten Gazastreifen in noch nie dagewesenem Umfang durch. Die Bombardierung des Gazastreifens ist nicht nur die intensivste, die jemals durchgeführt wurde, sondern auch schlimmer als die Bombardierung während der Invasion des Irak.
Weite Teile des Gazastreifens sind in Schutt und Asche gelegt. Sauberes Wasser ist äußerst knapp, und es herrscht eine Hungersnot. Bis heute sind mehr als 8000 Menschen im Gazastreifen gestorben, und die Zahl der Toten steigt stündlich. Das Gemetzel aus der Luft wird nun durch Truppen am Boden ergänzt. In der Zwischenzeit wurden auch Palästinenser*innen von israelischen Streitkräften im Westjordanland getötet, und in Israel selbst sehen sich all diejenigen, die sich dem Angriff auf Gaza widersetzen – insbesondere Palästinenser*innen – mit zunehmender Repression konfrontiert. Kein Wunder, dass sich Millionen von Menschen in Großbritannien wie auch in anderen Ländern der Welt fragen, was sie tun können, um den Krieg gegen Gaza zu beenden und den palästinensischen Kampf um nationale Selbstbestimmung zu unterstützen.
- Welche Macht steht auf der Seite der Palästinenser*innen?
Die Menschen suchen unweigerlich nach einer Institution, die die Autorität und den Willen hat, das Gemetzel zu beenden. Einige hoffen, dass die Vereinten Nationen (UN) dies tun können. Immerhin hat der UN-Generalsekretär zu einem humanitären Waffenstillstand aufgerufen und Israel “eindeutige Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht” vorgeworfen. Die UNO ist jedoch keine unabhängige Macht. Sie setzt sich aus den Regierungen der Welt zusammen und wird von den Großmächten, den “ständigen Mitgliedern” des Sicherheitsrates, allen voran dem US-Imperialismus, dominiert. So wurde zwar ein symbolischer Antrag, der einen “humanitären Waffenstillstand” forderte, von der Generalversammlung angenommen, doch selbst der Antrag auf eine “humanitäre Pause”, der dem beschlussfassenden UN-Sicherheitsrat vorgelegt wurde, wurde von den USA mit einem Veto belegt, wobei sich Großbritannien (und Deutschland, A.d.Ü.) der Stimme enthielt.
Es ist offensichtlich, dass es nicht sinnvoll ist, die Rettung der Palästinenser*innen von den westlichen Regierungen zu erwarten. Alle von ihnen haben sich hinter die stärkste Macht der Welt – die USA – gestellt und unterstützen den Angriff auf Gaza. Auf dem EU-Gipfel wurde lediglich eine “humanitäre Pause” und kein Waffenstillstand, geschweige denn ein Rückzug aus den besetzten Gebieten gefordert. Der US-Imperialismus ist im Niedergang begriffen, aber er bleibt die überragende Militärmacht auf dem Planeten. So hat er beispielsweise zwei seiner elf Flugzeugträger in den Arabischen Golf entsandt, während kein anderes Land mehr als zwei solcher hat. Für den US-Imperialismus ist Israel seit jeher ein Stützpunkt im Nahen Osten, den er nach Kräften unterstützt.
Die Regime der arabischen Welt sind jedoch nicht daran interessiert, das palästinensische Volk zu verteidigen. Vielmehr geht es ihnen darum, ihre eigene Herrschaft zu erhalten und den Reichtum und die Macht ihrer Eliten zu verteidigen.
Das heißt aber nicht, dass wir nichts tun können. Es gibt eine potenzielle “Supermacht”, die sich dem Ansturm auf Gaza entgegenstellt. Die massiven Demonstrationen, die in der gesamten arabischen Welt – einschließlich Ägypten, Libanon, Irak, Jordanien, Kuwait und Tunesien sowie im Westjordanland – stattgefunden haben, haben einen Eindruck von dieser Supermacht vermittelt. Sie sind ein zentraler Faktor dafür, dass der US-Imperialismus und andere westliche Mächte zumindest ihren Ton ändern und versuchen, die israelische Regierung daran zu hindern, “zu weit” zu gehen. Die imperialistischen Mächte und die arabischen Regime sind zweifelsohne bestrebt, die reale Gefahr eines regionalen Krieges zu vermeiden. Vor allem aber wollen sie einen neuen “arabischen Frühling” verhindern. Vor etwas mehr als einem Jahrzehnt fegten Massenbewegungen der Arbeiter*innenklasse und der Armen durch die Region und stürzten Diktaturen. Letztlich wurden diese Bewegungen niedergeschlagen, weil die Arbeiter*innenklasse in den verschiedenen Ländern keine eigenen Parteien mit einem Programm für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft hatte. Nichtsdestotrotz ist die Arbeiter*innenklasse die potenziell mächtigste Kraft in der Gesellschaft, die in der Lage ist, die bestehende Ordnung zu stürzen. Die Eliten befürchten, dass sie beim nächsten Mal nicht so viel Glück haben könnten.
2. Wie können wir diese potenzielle Supermacht hier in Großbritannien aufbauen? Welche Lehren können wir aus der Bewegung gegen den Irak-Krieg ziehen?
Auch hier sind bereits Hunderttausende von Menschen in den Städten Großbritanniens auf die Straße gegangen, um sich mit den Palästinenser*innen zu solidarisieren. Und diese Demonstrationen üben bereits Druck auf Westminster aus. Wie können wir die Bewegung noch stärker machen?
Vor zwanzig Jahren, in der Kampagne gegen den Irak-Krieg, half die Socialist Party bei der Vorbereitung der gigantischen Demonstrationen, die stattfanden. In London gingen am 15. Februar 2003 bis zu zwei Millionen Menschen auf die Straße, und Millionen weitere protestierten im ganzen Land. Diese Demonstrationen erschütterten die New-Labour-Regierung in ihren Grundfesten, und (der damalige Premierminister) Blair befürchtete, er müsse zurücktreten. Dennoch hielt seine Regierung daran fest und setzte ihren Weg in den Krieg fort. Viele Gewerkschafter*innen nahmen an den Demonstrationen teil, und Gewerkschaftsführer*innen sprachen auf ihnen. Es gab auch einige Fälle kollektiver gewerkschaftlicher Anti-Kriegs-Aktionen, insbesondere die Güterzugfahrer*innen von Motherwell, die sich weigerten, für den Irak bestimmte Munition zu transportieren.
Von der Spitze der Gewerkschaftsbewegung gab es jedoch keine Anhaltspunkte für eine solche Aktion auf breiterer Ebene. Am “Tag X”, als die Invasion begann, traten Schüler*innen und Studierende im ganzen Land in den Streik, hauptsächlich initiiert von jungen Mitgliedern der Socialist Party, und einige Gruppen von Arbeiter*innen schlossen sich ihnen an. Hätten die Gewerkschaftsführer*innen landesweit zum Streik gegen den Krieg aufgerufen, hätte dies das Land zum Stillstand bringen und die Regierung zwingen können, sich von der Beteiligung an der Invasion zurückzuziehen. Das hätte den US-Imperialismus zwar nicht daran gehindert, weiterzumachen, aber es hätte das Vertrauen der Antikriegsbewegung in den USA enorm gestärkt. Auch heute könnten kollektive Gewerkschaftsaktionen, zum Beispiel die Blockierung der Produktion und des Transports von für Israel bestimmten Rüstungsgütern, eine erhebliche Wirkung haben. Die Gewerkschaften in Großbritannien haben über sechs Millionen Mitglieder und ein enormes Machtpotenzial. Und in den letzten 18 Monaten haben sie begonnen, diese Macht zu spüren, mit dem höchsten Streikaufkommen seit dreißig Jahren.
3. Gibt es auch politische Lehren aus dieser Antikriegsbewegung?
Ja. Eine weitere Schwäche der Anti-Kriegs-Bewegung vor zwanzig Jahren war, dass sie keine politische Stimme mit Massenbasis hatte. Obwohl sie größtenteils von Sozialist*innen angeführt wurde, gab die Führung der Stop the War Coalition, zu der auch die Socialist Workers’ Party gehörte, den sozialistischen Organisationen fälschlicherweise keine Redezeit, um die Notwendigkeit einer sozialistischen Alternative auf den Massendemos zur Sprache zu bringen, und überließ die Bühne stattdessen Leuten wie den Liberaldemokraten, die sich als die “Anti-Kriegs”- und “linke” Alternative präsentierten, bevor sie den Krieg unterstützten, sobald er begonnen hatte, und später einer Koalitionsregierung mit den Tories beitraten.
Heute überrascht es niemanden mehr, dass die Tory-Regierung den Angriff auf Gaza von ganzem Herzen unterstützt hat. Starmers New Labour hat sich jedoch nicht anders verhalten. Der Generalsekretär der Labour-Partei schrieb an die Abgeordneten und Ratsmitglieder der Labour-Partei, dass sie sich “unter keinen Umständen” an Solidaritätsprotesten für die Palästinenser*innen beteiligen dürften. Es ist zu begrüßen, dass einige gegen dieses Diktat rebelliert haben, aber es ist ein Zeichen für den rechten Charakter der parlamentarischen Labour-Partei, dass nur ein Viertel überhaupt zu einem Waffenstillstand aufgerufen hat!
Starmer ist auf dem besten Weg, der nächste Premierminister zu werden, aber in der Außen- und Innenpolitik macht er deutlich, dass er keinen grundlegend anderen Weg als die Tories einschlagen wird. Er wird im Interesse der kapitalistischen Elite handeln und nicht im Interesse der Arbeiter*innenmehrheit. Starmers New Labour Mark II unterscheidet sich nicht von New Labour Mark I, die sich unter Blair an der Invasion des Irak beteiligt hat. Deshalb wird ein entscheidender Weg zur Stärkung der palästinensischen Solidaritätsbewegung der Aufbau einer neuen Partei sein, die die Interessen der Arbeiter*innenmehrheit und nicht die der kapitalistischen Elite vertritt und sich für die Verteidigung der Palästinenser*innen im Rahmen eines sozialistischen und internationalistischen Programms einsetzt.
4. Welche Haltung sollte die Bewegung gegenüber der Hamas einnehmen?
Sunak, Starmer, Biden und die anderen verurteilen die Tötungen israelischer Zivilist*innen durch die Hamas, während sie das Recht des israelischen Staates unterstützen, sich selbst zu verteidigen, indem er Tausende von Zivilist*innen tötet, die in dem Freiluft-Gefängnis Gaza gefangen sind. Diese Heuchelei hat zu Recht alle Teilnehmer*innen der Anti-Kriegs-Bewegung wütend gemacht, die verstehen, dass diese Ereignisse auf Jahrzehnte brutaler Unterdrückung der Palästinenser*innen folgen. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir die Ideologie, Strategie oder Methoden der Hamas unterstützen sollten. Schon vor den schrecklichen Morden am 7. Oktober hatten die Socialist Party und das Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) vor gezielten Angriffen auf israelische Zivilist*innenen im nationalen Konflikt gewarnt und sich gegen solche Angriffe ausgesprochen. Wir sind aber keine Pazifist*innen.
Die Palästinenser kämpfen gegen einen brutalen Besatzer. Durch die Angriffe auf israelische Zivilist*innen innerhalb Israels haben es die Hamas und die anderen an dem Angriff vom 7. Oktober beteiligten Kräfte der israelischen Regierung jedoch sehr viel leichter gemacht, die israelische Gesellschaft für ihren derzeitigen brutalen Angriff auf den Gazastreifen zu mobilisieren. Vergleichen Sie, wie die Angriffe vom 7. Oktober die Unterstützung für eine Bodeninvasion in Gaza verstärkt haben, mit der Art und Weise, wie die Massenbewegungen im gesamten Nahen Osten es dem israelischen Staat erschwert haben, zu eskalieren. Wir verweisen auf die erste Intifada, den Massenaufstand in den besetzten Gebieten, der 1987 begann. Der Weg nach vorne für die Palästinenser*innen wird durch einen demokratisch organisierten Massenkampf – eine sozialistische Intifada – führen, der auf den Interessen der Arbeiter*innen und der Armen basiert, unabhängig von den reichen Eliten.
5. Aber erfordert die Unterstützung des palästinensischen Kampfes nicht auch die Unterstützung ihrer derzeitigen Führer?
Nun, die Tory-Innenministerin Suella Braverman versucht zu argumentieren, dass das Tragen einer palästinensischen Flagge bedeutet, die Hamas zu unterstützen, aber das ist eindeutig nicht der Fall!Leider gibt es auch einige in der Linken, einschließlich der Socialist Workers’ Party, die argumentieren, dass sozialistische Revolutionär*innen die Hamas bedingungslos unterstützen sollten, mit der Begründung, dass “Revolutionär*innen immer den Widerstand der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker unterstützen sollten”.Wir stimmen zu, dass es wichtig ist, Kämpfe für die nationale Befreiung zu unterstützen, aber die “bedingungslose” Unterstützung von Führer*innen von Organisationen, die keine Strategie für die nationale Befreiung haben, hilft diesen Kämpfen in keiner Weise. Die Hamas regiert den Gazastreifen, seit sie bei den letzten Wahlen vor 17 Jahren die meisten Stimmen erhalten hat. Meinungsumfragen innerhalb des Gazastreifens sind nicht zuverlässig, aber die letzte Umfrage aus der Zeit vor dem aktuellen Krieg zeigte, dass große Mehrheiten der Hamas wenig oder gar nicht vertrauen und über das Ausmaß der Korruption in den Institutionen Gazas verärgert sind. Die Hamas ist eine prokapitalistische, rechtsgerichtete islamistische Organisation, die sich einer unabhängigen Organisation der Arbeiter*innenklasse widersetzt, die der Schlüssel zur Erlangung der palästinensischen Befreiung ist.
6. Aber ganz gleich, wie die Palästinenser*innen sich organisieren und wie groß die weltweite Bewegung zu ihrer Verteidigung ist, wird es nicht unmöglich sein, den israelischen Staat zu besiegen, der bis an die Zähne bewaffnet ist und vom US-Imperialismus unterstützt wird?
Die militärische Stärke des israelischen Staates ist die eine Seite der Frage. Seit der Gründung Israels im Jahr 1948 haben die Palästinenser*innen eine Reihe von Verbrechen gegen sie erlitten. Mehr als eine Million wurden von ihrem Land vertrieben und in Geflüchtetenlager in den umliegenden Ländern gebracht. Das Osloer Abkommen von 1993 weckte die Hoffnung auf eine kapitalistische “Zweistaatenlösung”, die sich jedoch, wie wir damals warnten, als grausame Illusion erwiesen hat. Doch keine noch so große militärische Stärke kann jemals den Wunsch der palästinensischen Massen nach Selbstbestimmung zerstören. Auch der gegenwärtige Krieg, so barbarisch er auch sein mag, wird dies nicht tun können. Im Gegenteil, er wird ihn noch verstärken.
Zugleich ist Israel kein homogener Block. Auch Israel ist eine Klassengesellschaft und in Wirklichkeit tief gespalten. Im Jahr 2017 lag das Pro-Kopf-BIP in Israel bei 35.700 Dollar im Jahr, im Vergleich zu nur 1700 Dollar im Gazastreifen, aber das bedeutet natürlich nicht, dass alle Israelis wohlhabend sind, genauso wenig wie das Pro-Kopf-BIP in Großbritannien von 45.100 Dollar das bedeutet. Ein Drittel der Kinder in Israel wächst in Armut auf. Vor dem gegenwärtigen Krieg gab es in Israel eine beispiellose politische Krise mit einer neun Monate andauernden Massenbewegung gegen die Regierung, einschließlich eines Generalstreiks und einer weit verbreiteten Verweigerung des Dienstes in der Armee durch Reservist*innen. In der gegenwärtigen Situation wurde diese Bewegung zwar zerschlagen, aber die Regierung ist nach wie vor extrem unpopulär, und das deutet auf die Unvermeidbarkeit künftiger großer Klassenkonflikte in der krisengeschüttelten israelischen Gesellschaft hin.
7. Aber die israelische Führungselite wird den Palästinenser*innen doch niemals ein echtes Selbstbestimmungsrecht zugestehen?
Nein, das werden sie nicht.Die israelische Kapitalist*innenklasse ist von der Verteidigung ihrer eigenen Profite und Ressourcen getrieben.Sie werden die brutale Unterdrückung der Palästinenser*innen immer mit der Ausbeutung der israelischen Arbeiter*innenklasse verbinden und gleichzeitig den Nationalismus zur Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft nutzen. Sie werden gestürzt werden müssen. Eine Arbeiter*innenregierung in Israel, die mit dem Kapitalismus bricht und beginnt, eine demokratische und sozialistische Planwirtschaft zu entwickeln, wäre jedoch eine ganz andere Perspektive.
Leo Trotzki, einer der Führer der Russischen Revolution, sagte voraus, dass der Versuch, ein jüdisches Heimatland im Nahen Osten zu schaffen, eine “blutige Falle” darstellen würde. Damit hat er eindeutig recht behalten. Israel existiert jedoch seit einem Dreivierteljahrhundert, und es gibt ein israelisches Nationalbewusstsein, das Sozialist*innen nicht ignorieren können. Heute sind etwa siebzig Prozent der Israelis dort geboren und fühlen sich dort zu Hause. Wie die Arbeiter*innenklasse überall wollen auch sie frei von Armut, aber auch von Krieg und Unsicherheit leben können – was durch eine fortgesetzte Unterdrückung der Palästinenser*innen niemals erreicht werden wird.
Aber eine Arbeiter*innenregierung in Israel hätte einen Weg, dies zu erreichen, durch Verhandlungen mit gewählten und rechenschaftspflichtigen palästinensischen Arbeiter*innenorganisationen – die ebenfalls aufgebaut werden müssen -, um eine Einigung über alle relevanten Fragen zu erzielen, einschließlich der Landgrenzen, der Verteilung von Wasser und anderen Ressourcen und der Aufteilung Jerusalems.
8. Wir brauchen also Sozialismus?
Ja! Die Erlangung eines echten Selbstbestimmungsrechts für das palästinensische Volk ist untrennbar mit dem Umsturz des kapitalistischen Systems verbunden. Für die kapitalistischen Klassen der Großmächte war das Recht der unterdrückten Nationalitäten immer nur Kleingeld. Lippenbekenntnisse werden abgelegt, wenn es ihren Interessen entspricht, und wieder verworfen, wenn es nicht passt. Aber selbst Lippenbekenntnisse für die nationalen Rechte der Palästinenser*innen hat es nur selten gegeben. heute ist der Kapitalismus weltweit ein System in der Krise, das zunehmend unfähig ist, die Bedürfnisse der Mehrheit zu befriedigen oder die Umweltkrise zu überwinden. Kriege und Konflikte nehmen zu. Aber die weltweite Massenbewegung zur Unterstützung der Palästinenser*innen weist auf die potenzielle “Supermacht” hin, die dieses verrottete System beenden und mit dem Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschaft beginnen könnte, die den Bestrebungen aller Nationalitäten im Nahen Osten und weltweit gerecht wird. Revolutionärinnen und Revolutionäre haben eine entscheidende Rolle zu spielen, nicht nur bei der Unterstützung und dem Aufbau der Massenbewegungen, sondern auch beim Eintreten für das sozialistische Programm, das für den Sieg notwendig ist.
Im Anhang unser aktuelles Flugblatt zum Nahost-Konflikt:
