Wir veröffentlichen hier drei Artikel der Sol zu historischen Materialismus als Teil einer Artikelserie „Was ist Marxismus“.
Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen
Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus den Werken von Karl Marx und Friedrich Engels ist in der Aussage, dass „die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft die Geschichte von Klassenkämpfen“ ist, enthalten. Doch was ist damit gemeint?
von Jasper Proske, Mainz (Sol – CWI in Deutschland)
Alle uns aus der Geschichte schriftlich überlieferten Gesellschaften bestanden aus verschiedenen Klassen mit konkurrierenden Interessen (neben den Urgesellschaften, wovon wir keine schriftlichen Überlieferungen haben). In jedem Fall gehörten dazu eine (oder mehrere) ausbeutende, herrschende Klasse und eine produzierende, ausgebeutete Klasse, zum Beispiel Sklavenhaltende und Sklaven, Feudalherren und Bäuer*innen, oder Bourgeois und Proletarier.
Die Konflikte zwischen, aber auch innerhalb, dieser Klassen sind das bestimmende Element in der menschlichen Geschichte. Historische Persönlichkeiten handeln nicht als freie, rein selbstbezogene Akteur*innen, sondern sind meistens Vertreter*innen ihrer Klasse (meistens Vertreter*innen der ausbeutenden Klasse) und handeln vor allem zugunsten zumindest eines relevanten Teil derselben. Persönliche Eigenschaften sind zwar nicht irrelevant, spielen aber eine untergeordnete, und nicht die entscheidende Rolle.
Martin Luther und die Bauernkriege
So war zum Beispiel die Reformation nicht einfach ein theologischer Konflikt, sondern es ging dabei um ganz klare Machtinteressen. Indem die weltlichen Fürsten sich von der katholischen Kirche abwandten, konnten sie die Bischöfe entmachten und sich dabei die enormen weltlichen Besitztümer der Kirche aneignen.
Echte theologische Rebellen wie Müntzer oder Huß, die zu Inspiratoren oder Anführern von Bauernaufständen wurden, teilten hingegen das Schicksal zehntausender Bauern und Bäuerinnen, die im Laufe der Deutschen Bauernkriege brutal niedergemetzelt wurden.
Klassenkampf
Die herrschende, ausbeutende Klasse kämpft ständig untereinander, aber auch gegen die Herrschenden anderer Länder. Ihr wichtigstes Anliegen ist aber immer die Aufrechterhaltung ihrer Machtstellung, das heißt ihrer Kontrolle über die ökonomischen Kräfte der Gesellschaft (früher bedeutete dies einst Sklaven oder Grundbesitz, heute Fabriken und Infrastruktur).
In der Tat bringt nichts die Herrschenden so schnell an einen Tisch, wie wenn die Untertanen plötzlich aufmüpfig werden.
Revolution
Nicht nur im Deutschen Bauernkrieg, ganz besonders in den Aufständen der französischen und russischen Arbeiter*innen 1871 und 1917, hat man das sehr trefflich gesehen: hier führte die Machtergreifung der faktischen Mehrheit jedesmal dazu, dass sich alle bis dato Mächtigen auf der Stelle vereinigten, um die Arbeiter*innen mit den brutalsten Racheakten zu überziehen. Zu diesem Zweck vereinigten sich auch ehemalige Kriegsgegner*innen, die sich nur Wochen vorher bis aufs Blut bekämpft hatten. In dieser Situation fallen alle Masken, es gibt keine Neutralität und keine Rufe nach Gewaltfreiheit mehr: die herkömmlichen Machtverhältnisse müssen mit aller Gewalt wiederhergestellt werden.
Bergarbeiterstreik 1984-85
Ein uns sehr viel näheres, und auch sehr anschauliches Beispiel ist der große Streik der britischen Bergarbeiter*innen im Jahr 1984 bis 1985. Offiziell ging es um einen internen, rein wirtschaftlichen Konflikt zwischen der Kohlebehörde und deren Angestellt*innen.
Als die Bergarbeiter*innen nun aber in den Streik traten, mobilisierte die Regierung den gesamten Staatsapparat zu dessen Niederschlagung. Sie griff dabei zu allen verfügbaren Mitteln, inklusive der Abriegelung ganzer Regionen, des Einsatzes berittener Polizei gegen unbewaffnete Demonstrant*innen und der Beschlagnahmung von Gewerkschaftsvermögen.
Schlussfolgerungen
Darin liegt eine wichtige Lektion: gerade das scheinbar selbstverständliche Recht auf gewerkschaftliche Organisation und Streiks stellt für die Herrschenden eine erhebliche Gefahr dar und wird sehr schnell eingeschränkt oder ganz kassiert, wenn es „zu weit“ ausgenutzt wird. Dann entscheidet nicht das Gesetz, sondern allein die relative Stärke der beiden Klassen.
Aber: Dieses Wissen kann uns auch helfen, uns zu befreien, denn in der Geschichte war der Staat eben nicht grundsätzlich stärker. Alle unsere wichtigsten Rechte wurden uns nicht geschenkt, sondern mussten und konnten erkämpft werden. Das Wissen um diese Tatsache kann uns, die Klasse der Lohnabhängigen, enorm stärken.
Nur wenn wir lernen, die Geschichte als ständigen Machtkampf zwischen und innerhalb der gesellschaftlichen Klassen zu betrachten, und uns als geschichtliche Akteur*innen, die den Ausgang dieses Kampfes beeinflussen können, sind wir in der Lage, uns von Armut, Unterdrückung und Ungerechtigkeit zu befreien.
„Das Sein bestimmt das Bewusstsein“
Historischer Materialismus und Klassenbewusstsein
In der vorigen Ausgabe haben wir uns mit einem Aspekt des Historischen Materialismus, dem Klassenkampf, beschäftigt. In dieser Ausgabe vertiefen wir einen weiteren Aspekt: wie sich unser Bewusstsein entwickelt. Wieso verhält sich der Mensch so, wie er es tut? Was ist der Ursprung seiner Ideen und Schlussfolgerungen.
von Jens Jaschik, Dortmund (Sol – CWI in Deutschland)
Die kapitalistische Gesellschaft besteht aus zwei sich feindlich gegenüberstehenden Klassen: Einerseits der Arbeiter*innenklasse, die nichts zu verkaufen hat als ihre Arbeitskraft. Zu ihr gehört die große Mehrheit unserer Gesellschaft. Die andere Klasse ist die Bourgeoisie oder Kapitalist*innenklasse, welche die Arbeiter*innenklasse ausbeutet und sich den Mehrwert – kurz gesagt den Profit, den die Kapitalist*innen aus den von den Arbeiter*innen produzierten Produkten – aneignet.
In seinem Vorwort zur Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ schreibt Karl Marx „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihren Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ (Mit dem ersten Teil des Zitats, Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, Basis und politischem Überbau, wird sich ein weiterer Artikel in der nächsten Ausgabe befassen.)
Herrschende Ideologie
Diese Analyse von Marx wird auf oft die Aussage „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ reduziert. Gegner*innen des Marxismus machen sich diese Vereinfachung zu nutze, um zu „beweisen“ Marx habe sich geirrt, schließlich hat die Mehrheit der Arbeiter*innenklasse trotz ihres Seins kein Arbeiter*innenbewusstsein. Aber es ist ein gesellschaftliches Sein, das das Bewusstsein bestimmt. Die Arbeiter*innenklasse ist in ständiger Interaktion mit der Gesellschaft als Ganzes. Das gesellschaftliche Verhältnis, das sich aus ihrer Stellung im Produktionsprozess ergibt, bestimmt insgesamt das Bewusstsein. Arbeiter*innen sind auch Verkäufer*innen einer Ware (ihrer Arbeitskraft) auf dem Markt (dem Arbeitsmarkt), die mit anderen Verkäufer*innen konkurrieren.
Nicht zuletzt sind die herrschenden Ideen immer die Ideen der Herrschenden. Die Kapitalist*innen haben – mit Hilfe ihrer politischen Helfershelfer*innen – die Kontrolle über Staat, Parlamente, Medien, Gerichte, Schulen, Universitäten und vielem mehr, um ihre Ideologie zu verbreiten. Konkurrenz-Denken, Ellbogen-Gesellschaft und die Idee, dass jeder seines eigenes Glückes Schmied ist, gehören zur Muttermilch des Kapitalismus.
Rolle der Arbeiter*innenklasse
Aber weder gesellschaftliches Sein noch das Bewusstsein sind statisch, sondern in ständiger Bewegung. Die Gesellschaft besteht aus Widersprüchen und an diesen Widersprüchen zerreibt sich das falsche Bewusstsein. In „Das Elend der Philosophie erklärt Marx: „Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter gewandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für die Massen eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist die Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf (…) findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen.“
Klassenbewusstsein bedeutet sich darüber bewusst zu sein, dass man als Arbeiter*innen in einer gemeinsamen Situation steckt und gemeinsame Interessen hat. Im Kampf um diese Interessen entwickelt sich das Klassenbewusstsein weiter. Es wird immer deutlicher, dass man einem starken Gegner gegenübersteht und es notwendig ist, sich zu organisieren. Organisationen sind der materielle Ausdruck von Klassenbewusstsein.
Die Hammerschläge der Ereignisse (Krisen, Kriege, Katastrophen) werden zu immer radikaleren Schlussfolgerungen führen. Der Kampf zur Verteidigung der Interessen, wird immer mehr zu einem politischen Kampf. Die Arbeiter*innen schaffen den Reichtum in der Gesellschaft und sind auf Grund ihrer Stellung im Produktionsprozess als einzige Klasse fähig, kollektive Erfahrungen zu sammeln und kollektive Kampforganisationen zu schaffen, die den Kapitalismus überwinden können. Marxist*innen müssen dazu beitragen, dass sich ein solches sozialistisches Klassenbewusstsein entwickelt.
“It’s the economy, stupid!”*
Was ist Marxismus? Historischer Materialismus Teil 3: Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse
Wir haben bereits in zwei Artikeln wichtige Aspekte der von Karl Marx entwickelten Geschichtstheorie, des Historischen Materialismus, dargestellt. In diesem dritten Artikel wollen wir diese Darstellung abrunden.
von Wolfram Klein, Sol (CWI in Deutschland)
Im ersten Artikel ging es um die Bedeutung der Klassenkämpfe in der Geschichte. Aber Marx erklärte, dass die gesamte schriftlich überlieferte Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist. Warum führen diese Klassenkämpfe häufig nur dazu, dass die herrschenden Ausbeuter*innen (Sklavenhalter*innen, Feudalherr*innen, Kapitalist*innen) ihre Ausbeutung nicht in einem Maße steigern, dass den Fortbestand der Gesellschaft gefährdet (sie quasi die menschliche Kuh schlachten, statt sie zu melken), während in manchen Zeiten, der Klassenkampf zum Sturz einer Gesellschaftsform führen kann?
Im zweiten Artikel ging es um das Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und Bewusstsein und um die Auswirkungen von Veränderungen in diesem Sein. Aber warum verändert es sich überhaupt?
Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse
Marx ging von der einfachen Tatsache aus, dass Menschen, um leben zu können, Nahrung, Kleidung, Unterkunft und dergleichen brauchen. Da sie nur den kleinsten Teil davon in der Natur vorfinden, müssen sie arbeiten, produzieren. Dafür brauchen sie Produktivkräfte. Darunter verstand Marx einmal die körperlichen und geistigen Fähigkeiten der Menschen zum Produzieren, darüber hinaus deren Steigerung durch die Zusammenarbeit mit anderen Menschen (durch Arbeitsorganisation), und durch technische Hilfsmittel, durch Produktionsmittel (Werkzeuge und Maschinen).
Menschen sind gesellschaftliche Wesen, auch beim Produzieren. Deshalb stehen sie auch beim Produzieren in Verhältnissen zu anderen Menschen, in Produktionsverhältnissen. Marx erkannte, dass es einen Zusammenhang zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen gibt. Insbesondere sind seit Jahrtausenden die Menschen, die mit den Produktionsmitteln arbeiten, oft nicht deren Eigentümer*innenAntike Sklav*innen z.B. galten selbst als Werkzeuge, die nützlicherweise sprechen können. Moderne Lohnarbeiter*innen müssen ihre Arbeitskraft an die Eigentümer*innen von Produktionsmitteln verkaufen, um Lohn zu erhalten und von ihm zu leben. Deshalb bedingt die Stellung von Menschen zu den Produktionsmitteln ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Gesellschaftsklassen.
Entwicklung der Produktivkräfte
Warum sich Produktivkräfte entwickeln, kann in verschiedenen Gesellschaften verschiedene Ursachen haben. Im Kapitalismus führten dessen wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten zu einer in der Geschichte beispiellosen Produktivkraftentwicklung. Aber wenn sich Produktivkräfte entwickeln, entsprechen sie nicht mehr den bestehenden Produktionsverhältnissen, geraten in einen Widerspruch zu ihnen. So wurden im 17. und 18. Jahrhundert die städtischen Zunftvorschriften, die beispielsweise meist nur Produktion auf Bestellung erlaubten, zur Fessel für die Entwicklung von Manufakturen und Industrie. Dann besteht die Möglichkeit, dass der Klassenkampf nicht zum Erhalt der Produktionsweise beiträgt, sondern eine soziale Revolution eintritt, die zu einer neuen Produktionsweise mit grundlegend anderen Produktionsverhältnissen führt.
Gesellschaft und Staat
Marx unterschied verschiedene Produktionsweisen, z.B. die Antike Sklavenhaltergesellschaft, den Feudalismus des europäischen Mittelalters und den modernen Kapitalismus.
Die Produktionsverhältnisse bestimmen auch die anderen wirtschaftlichen Verhältnisse (auch die Verteilungsverhältnisse, weshalb es utopisch ist, im Rahmen des Kapitalismus eine wesentlich gerechtere Verteilung einzuführen), die gesellschaftlichen Verhältnisse und das, was Marx „Überbau“ nannte (Staat und Rechtssystem). Diese dienen nicht einer ewigen Gerechtigkeit, sondern der Erhaltung der bestehenden Produktionsweise und können nicht einfach so für deren Überwindung verwendet werden.
Ein Leitfaden
Marx bezeichnete seine Gedanken als „Leitfaden“ für die Erforschung der Geschichte. Sie ist keine Schablone, in die man den Geschichtsverlauf in seiner Vielfalt pressen darf.
Erst Recht darf man nicht für die Zukunft schlussfolgern, dass eines Tages die Leute sehen, dass der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen groß genug für eine Revolution geworden ist und dann zur Tat schreiten. Revolutionäre Massenbewegungen können durch verschiedene gesellschaftliche Krisen (Wirtschaftskrisen, Kriege, Naturkatastrophen, große politische Skandale usw.) ausgelöst werden. Ob sie dann zu einer siegreichen sozialen Revolution führen, hängt auch von der Politik der revolutionären Klasse und ihrer Organisationen ab.
“Es geht um die Wirtschaft, Dummkopf!” war der Wahlkampfslogans Bill Clintons im US-Präsidentschaftswahlkampf 1992, den er gegen George W. Bush gewann. Der Spruch wurde zum geflügelten Wort und bringt die Bedeutung der Wirtschaft für politische Entwicklungen zum Ausdruck.
Zum Weiterlesen:
Teil 1 der Serie „Was ist Marxismus“: Karl Marx – Leben und Werk
