Dieser Text von Nial Mulholland erschien ursprünglich auf Englisch in dem Buch “Leon Trotsky – A Revolutionary whose Ideas could’nt be killed”, das das CWI anlässlich des 80. Jahrestages der Ermordung Trotzki veröffentlichte.

Das Buch kann hier bestellt werden.

Die „nationale Frage“, die Unterdrückung von Nationen und nationalen Minderheiten, ist eines der schwierigsten und komplexesten Themen, mit denen sich Marxist/innen heute auseinandersetzen müssen. Da der Kapitalismus in eine neue Phase der Vertiefung der Krise eintritt, werden sich nationale Spannungen und nationale Unterdrückung verschärfen. Um diese Prozesse zu analysieren und eine Politik und ein Programm für die Arbeiter/innenbewegung zu diesem heiklen Thema zu formulieren, kann man viel von den Ideen Leo Trotzkis lernen.

Eine Untersuchung von Trotzkis Kommentaren zu mehreren Schlüsselbeispielen der nationalen Frage kann dazu dienen, seinen reichhaltigen dialektischen Ansatz zu beleuchten. Trotzkis Verständnis der nationalen Frage war zunächst von den Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels zu diesem Thema geprägt, insbesondere in Bezug auf Polen und Irland. Marx und Engels wandten sich gegen den bürgerlichen (kapitalistischen) Nationalismus, der darauf abzielt, die Arbeiter/innenklasse zu spalten, und forderten gleichzeitig die größtmögliche Einheit der Arbeiter/innenklasse über Grenzen hinweg.

In der Ersten Internationale bekämpften Marx und Engels zum Beispiel die liberal-demokratischen nationalistischen Ideen des Italieners Giuseppe Mazzini. Das bedeutet nicht, dass Marx und Engels die nationale Unterdrückung oder die Rechte der unterdrückten Nationen ignorierten. Auch innerhalb der Ersten Internationale bekämpften Marx und Engels die Ideen und den Einfluss von Pierre-Joseph Proudhon, dem „Vater des Anarchismus“, der die Bedeutung der nationalen Frage und der nationalen Befreiungskämpfe der Polen, Iren und anderer unterdrückter Nationalitäten leugnete.

Marx und Engels zu Poland und Ireland 

Marx und Engels setzten sich an vorderster Front für die Rechte der Unterdrückten ein. Die Unterstützung des polnischen Kampfes für die nationale Emanzipation vom zaristischen Russland und vom deutschen und österreichischen Staat stand ganz oben auf der Tagesordnung der internationalen Arbeiter/innenbewegung. Für Marx und Engels hätte die polnische Unabhängigkeit, ungeachtet des Charakters der polnischen nationalistischen Führung, einen gewaltigen Schlag gegen den zaristischen Absolutismus und die nationale Unterdrückung bedeutet und der Arbeiter/innenbewegung Ansporn gegeben.

Gleichzeitig machte Marx deutlich, dass Sozialist/innen nicht verpflichtet sind, jeden Ruf nach Unabhängigkeit zu unterstützen, unabhängig davon, wer ihn erhebt und zu welchem Zweck. So wandte er sich zum Beispiel gegen die Versuche des reaktionären zaristischen Russlands, seine Position auf dem Balkan zu stärken, indem es für die „Unabhängigkeit“ der „Südslaw/innen“ eintrat, die als Schachfiguren in den Kämpfen zwischen den Großmächten behandelt wurden.

Die Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht ist keine sozialistische, sondern eine bürgerlich-demokratische Forderung. Manchmal steht sie an zweiter Stelle hinter spezifisch sozialistischen Forderungen und Aktionen. Für Marxist/innen ist der Ausgangspunkt immer, dass das fortschrittlich ist, was die Stärke, das Vertrauen und die Macht der Arbeiter/innenklasse stärkt. Was diese untergräbt oder schwächt, ist rückschrittlich und muss bekämpft werden. Bei der Saarabstimmung 1936 sprach sich Trotzki zum Beispiel gegen die Rückgabe der Region an Deutschland aus. Formal gesehen könnte dies als Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der deutschsprachigen Bevölkerung interpretiert werden. Dies war jedoch zweitrangig gegenüber der Tatsache, dass es sie damals unter die Fuchtel des Faschismus gebracht hätte.

Zunächst befürwortete Marx die Autonomie Irlands mit der Begründung, dass das Ende der Unterdrückung der Ir/innen durch einen Sieg der Arbeiter/innenklasse in England, wo die Chartist/innenbewegung wuchs, herbeigeführt würde. Später, in den 1860er Jahren, glaubte Marx, dass die nationale Befreiung Irlands der Weg für eine erfolgreiche Arbeiter/innenrevolution in Großbritannien sei. „Jede Nation, die eine andere unterdrückt, schmiedet ihre eigenen Ketten“, schrieb Marx.

Die nationale Befreiung der unterdrückten Nation ermöglicht es, nationale Spaltungen und Antagonismen innerhalb der Arbeiter/innenklasse zu überwinden und die Arbeiter/innenklasse beider Nationen gegen ihren gemeinsamen Feind, die herrschende Kapitalist/innenklasse, zu vereinen. Marx sagte voraus, dass die Unabhängigkeit Irlands eine Agrarrevolte auslösen würde, um die „abwesenden“ englischen Großgrundbesitzer/innen zu stürzen, was wiederum den Kampf der Arbeiter/innen in England zum Sturz des Kapitalismus inspirieren würde.

Lenin und Trotzki

Trotzkis Schriften zur nationalen Frage waren vom Zugang von Marx und Engels durchdrungen. Dies geht aus einem Brief an die Tochter des großen irischen Marxisten James Connolly hervor, in dem Trotzki kommentiert: „Seit meinen frühen Tagen habe ich durch Marx und Engels die größte Sympathie und Wertschätzung für den heldenhaften Kampf der Ir/innen für ihre Unabhängigkeit erhalten … die revolutionäre Tradition des nationalen Kampfes ist ein kostbares Gut. Wäre es möglich, sie dem irischen Proletariat für seinen sozialistischen Klassenkampf einzuimpfen, könnte die Arbeiter/innenklasse Ihres Landes trotz der zahlenmäßigen Schwäche Ihrer Bevölkerung eine wichtige historische Rolle spielen und der britischen Arbeiter/innenklasse, die jetzt durch die senile Bürokratie gelähmt ist, einen mächtigen Impuls geben.“ (Brief von Leo Trotzki an Nora Connolly O’Brien, Norwegen, 6. Juni 1936)

In dieser Frage waren Trotzkis Ansichten vor 1917 nicht so abgerundet wie die von Lenin. Nach der Oktoberrevolution stimmte Trotzki voll und ganz mit Lenins Auffassung der nationalen Frage und dem Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Nationen überein. „Was auch immer das weitere Schicksal der Sowjetunion sein mag“, schrieb Trotzki 1930, „die Politik Lenins zur Nationalen Frage wird ihren Platz unter den Schätzen der Menschheit finden.“ (Die Geschichte der Russischen Revolution)

Im Gegensatz zu Rosa Luxemburg, die eine große marxistische historische Persönlichkeit war, sich aber in entscheidenden Aspekten der nationalen Frage irrte, proklamierte Trotzki ausdrücklich das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung. Im Falle Polens befürwortete er die Unabhängigkeit von der zaristischen, österreichischen und deutschen Vorherrschaft. Trotzki erkannte, dass eine echte nationale Befreiung ein mächtiger Schlag gegen den Zarismus und den Imperialismus sein würde, während Luxemburg, die sich einen erbitterten Kampf mit den polnischen Nationalisten lieferte, die kleinbürgerlichen und reaktionären Aspekte der polnischen nationalistischen Bewegung hervorhob.

Trotzkis Ansatz stand im Einklang mit Lenin, der argumentierte, dass die Ablehnung des Selbstbestimmungsrechts unter der Herrschaft des Zaren eine Unterstützung der großrussischen Grundbesitzenden und Kapitalist/innen bedeutete. Eine neue sozialistische Welt könne nicht aufgebaut werden, wenn die 57 Prozent Nicht-Großruss/innen, die im Zarenreich die Mehrheit bildeten, auch nur im Geringsten als Nation unterdrückt würden. Lenin vertrat die Ansicht, dass das Vertrauen der unterdrückten Nationalitäten nur durch das Eintreten für das Selbstbestimmungsrecht gewonnen werden könne. Befreite Nationen könnten dann, so Lenin, nach dem Sturz des Zarismus, des Großgrundbesitzertums und des Kapitalismus freiwillig in einer sozialistischen Föderation verbleiben.

Dieses prinzipienfeste Programm überwand nationalen Chauvinismus und Spaltungen. Es ermöglichte es den Bolschewiki, die größtmögliche Einheit der Arbeiter/innenklasse zu erreichen, und war für den Sieg im Oktober 1917 unerlässlich. Lenins prinzipienfeste Position zum Recht der Nationen, sich abzuspalten, wenn sie dies wünschten, wurde im Falle Finnlands verwirklicht, wo der Wunsch des finnischen Volkes nach Unabhängigkeit von der bolschewistischen Regierung im Dezember 1918 erfüllt wurde.

Balkan

Der Balkan ist seit langem ein Synonym für komplexe und leicht entflammbare nationale und ethnische Spannungen. Trotzki erlebte dies aus erster Hand, als er für eine liberale russische Zeitung über die Balkankriege 1912-13 berichtete. Er unterstützte das Selbstbestimmungsrecht von Rumänien, Bulgarien, Serbien, Böhmen und anderen unterdrückten Nationen auf dem Balkan. Im Jahr 1909 plädierte Trotzki für die Umwandlung des Balkans in eine „demokratische Föderation“ der Nationalitäten. 

In ihren Anfangsjahren übernahm die Komintern (Kommunistische Internationale, gegründet 1919) unter dem Einfluss von Trotzki und Lenin die Forderung nach einer Balkanföderation. Dies war die Position der Sozialist/innen in der Region vor dem Ersten Weltkrieg gewesen. Sie fügten hinzu, dass dies nur als Teil der sozialistischen Revolution in der Region erreicht werden könne. Unter Stalins Herrschaft in den 1930er Jahren wurde dieser vorsichtige und sensible marxistische Ansatz jedoch aufgegeben, wodurch die Versuche, eine Einheit der Arbeiter/innenklasse über nationale und ethnische Grenzen hinweg aufzubauen, untergraben wurden.

In den 1990er Jahren, während des blutigen Zerfalls des ehemaligen Jugoslawien, unterstützte das Komitee für die Arbeiter/inneninternationale (CWI) alle echten Bewegungen für das Selbstbestimmungsrecht und wandte sich gleichzeitig gegen reaktionäre, prokapitalistische nationalistische Kriegsherren und sich einmischende imperialistische Mächte. Ähnlich wie die Pionier/innen unter den Sozialist/innen auf dem Balkan und in den Anfangsjahren der Komintern befürwortet das CWI eine sozialistische Föderation des Balkans auf freiwilliger und demokratischer Basis als einzigen Weg zur Überwindung der scheinbar unlösbaren Nationalitätenprobleme in der Region.

Österreich-Ungarn

Trotzki lebte einige Jahre in der multiethnischen österreichisch-ungarischen Monarchie. In der Geschichte der Russischen Revolution verglich er die prinzipielle Politik der Bolschewiki in der nationalen Frage mit den österreichischen Sozialdemokrat/innen, die die „Doppelmonarchie“ des alten österreichisch-ungarischen Reiches akzeptierten: „Um den wirklichen Charakter von Lenins Politik in der nationalen Frage zu verstehen, ist es eine gute Idee – nach der Methode der Kontraste – sie mit der Politik der österreichischen Sozialdemokrat/innen zu vergleichen. Der Bolschewismus ging von einem jahrzehntelangen Ausbruch nationaler Revolutionen aus und unterwies die fortgeschrittenen Arbeiter/innen in diesem Sinne. Die österreichische Sozialdemokratie dagegen fügte sich willfährig in die Politik der herrschenden Klassen; sie verteidigte die obligatorische Mitbürgerschaft von zehn Nationen in der österreichisch-ungarischen Monarchie und schottete gleichzeitig, da sie absolut unfähig war, eine revolutionäre Vereinigung der Arbeiter/innen dieser verschiedenen Nationalitäten zu erreichen, diese in der Partei und in den Gewerkschaften durch vertikale Trennungen ab…“

Die verworrene und gefährliche Theorie der österreichischen Sozialdemokrat/innen von der „national-kulturellen Autonomie“ war ein opportunistischer Versuch, die nationale Frage auf eine Frage kulturell-sprachlicher Aspekte zu reduzieren und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen zu umgehen. In Anlehnung an Elemente der heutigen verhängnisvollen Identitätspolitik traten die österreichischen Sozialdemokraten für eine Trennung der Arbeiter/innenklasse auf der Grundlage von Sprache und Kultur ein. Die “national-kulturelle Autonomie” schürte unweigerlich nationale Spannungen innerhalb der Arbeiter/innenbewegung und schwächte die Arbeiter/innenklasse, als das österreichisch-ungarische Reich zusammenbrach.

Vor 1917 bekämpften Trotzki und Lenin innerhalb der russischen Arbeiter/innenbewegung ähnliche Zugänge wie jene der österreichischen Sozialdemokrat/innen. Lenin und Trotzki erkannten zwar die besondere Unterdrückung der etwa fünf Millionen Juden im zaristischen Russland an, lehnten aber die Forderungen des jüdischen Bundes nach einer eigenen, auf der ethnischen Zugehörigkeit basierenden Organisation innerhalb der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiter/innenpartei ab. Dies hätte bedeutet, dass die RSDLP nicht mehr als eine lose Föderation nationaler und ethnischer Parteien wäre, anstatt eine vereinte Partei von Kämpfer/innen, die für die Einheit der Arbeiter/innen und die sozialistische Revolution kämpfen. Die sozialistische Revolution beinhalte nämlich das Selbstbestimmungsrecht für unterdrückte Nationen und volle Rechte für Minderheiten, wie Lenin es forderte. 

Irland

Heute ist es nicht weniger wichtig, dass Marxist/innen nationale, kulturelle, ethnische und religiöse Fragen sorgfältig und sensibel beurteilen. Das CWI in Irland steht für die größtmögliche Einheit der Arbeiter/innenklasse, protestantisch und katholisch, gegen das System der Bosse und für sozialistische Veränderung. Das bedeutet nicht, die Situation vor Ort in Belfast oder anderswo im Norden zu beschönigen. Marxist/innen erkennen an, dass es tiefe sektiererische Spaltungen in der Gesellschaft gibt, die ein Erbe des Kolonialismus und Imperialismus sind, und dass sowohl katholische wie auch protestantische Arbeiter/innen echte Ängste und gegensätzliche Bestrebungen haben.

In einigen Kreisen wird behauptet, dass Katholiken und Protestanten bereits zwei getrennte Nationen auf der irischen Insel bilden. Das ist eindeutig nicht der Fall. Doch das nationale Bewusstsein ist nicht statisch. Wie das CWI in Irland schon früher gewarnt hat, muss man sich der theoretischen Möglichkeit bewusst sein, dass sich zwei unterschiedliche nationale Gruppierungen mit separaten Forderungen nach „Nationalstaaten“ in Irland herauskristallisieren und zur Realität werden könnten, wenn sich die Spaltungen über einen längeren Zeitraum oder in besonders scharfer Form nach erdbebenartigen Ereignissen weiter vertiefen und ausweiten würden – und die Arbeiter/innenbewegung es versäumt, diesen Entwicklungen entgegenzuwirken.

Wir sind aber eindeutig nicht an so einem Punkt. Und es wäre völlig falsch und leichtsinnig, Spaltungen und Schwierigkeiten überzubewerten und übermäßig zu betonen, insbesondere in programmatischer Form. Ein marxistisches Programm muss das heutige Massenbewusstsein in einer geteilten Gesellschaft und die Rechte und Bestrebungen beider „Gemeinschaften“ berücksichtigen und sollte aufzeigen, wie ein sozialistisches Irland allen Minderheitenrechten Rechnung tragen würde. Aber Marxist/innen haben auch die Pflicht, auf die potenziell mächtigen Bereiche der Einheit der Arbeiter/innenklasse hinzuweisen, wie „gemischte“ Arbeitsplätze und Gewerkschaften, und die Perspektive aufzuzeigen, dass die Arbeiter/innenklasse, protestantisch wie auch katholisch, konfessionelle Spaltungen im Zuge mächtiger Klassenkämpfe überwinden kann. 

Darüber hinaus ist ein ernsthaftes und prinzipienfestes Herangehen an die breitere Arbeiter/innenbewegung erforderlich, das die Fallstricke des politischen Sektierertums und des Opportunismus vermeidet und die mühsame, aber notwendige Aufgabe des Aufbaus einer neuen Massenpartei der Arbeiter/innenklasse mit einem kühnen, sozialistischen Programm unterstützt. Eine solche Partei würde in enger Solidarität mit den Kämpfen der Arbeiter/innenklasse im übrigen Irland und in Großbritannien zusammenarbeiten. Ein sozialistisches Irland, in dem die Rechte der protestantischen Minderheit in vollem Umfang garantiert sind, und eine sozialistische Föderation von Irland, Schottland, England und Wales auf freier und gleichberechtigter Grundlage sind der beste Weg, um die Spaltung der Arbeiter/innenklasse endgültig zu überwinden.

Die russische Revolution und die nationale Frage

Trotzki wuchs im multiethnischen zaristischen Russland auf und wiederholte oft Lenins Bemerkung, dass das Reich ein „Gefängnis der Nationalitäten“ sei. Ohne die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts wäre es den Bolschewiki nicht möglich gewesen, das Vertrauen der unterdrückten Nationalitäten zu gewinnen und so die Grundlage für eine sozialistische Föderation Russlands zu schaffen. Lenin und Trotzki nutzten das Beispiel der russischen Revolution, um die nationalen Befreiungsbewegungen in den Kolonialländern zu inspirieren und ihnen praktische Hilfe zu leisten, insbesondere durch die Komintern.

Bei der Ausarbeitung einer föderalen Struktur für den neuen Arbeiter/innenstaat war von den Bolschewiki große Sensibilität gegenüber den Nationalitäten gefordert. Lenin und Trotzki kritisierten Stalins ursprünglichen Verfassungsentwurf für den jungen Arbeiter/innenstaat scharf, der vorsah, dass sich die kaukasischen Republiken an Sowjetrussland anschließen sollten. Dies war ein Beispiel für großrussischen Chauvinismus und Überzentralisierung. Er verdeutlichte die Missachtung einer echten Gleichberechtigung aller Nationalitäten in der Sowjetunion, einschließlich des Rechts auf Trennung.

Am Vorabend des zwölften Kongresses der Kommunistischen Partei, der 1923 stattfand, schlug Stalin außerdem eine Dreiteilung der Nationen der Sowjetunion auf der Grundlage ihrer wirtschaftlichen Entwicklung vor. Auch hier wurden die Grundsätze der Gleichheit der Nationen und ethnischen Gruppen mit Füßen getreten.

Diese Positionen Stalins wurden von Lenin und Trotzki zurückgewiesen, und Lenin rügte seine Selbstherrlichkeit gegenüber führenden georgischen Bolschewiki. Als jedoch die stalinistische Degeneration der Sowjetunion einsetzte, machten der bürokratische großrussische Chauvinismus und die Überzentralisierung den sensiblen und prinzipienfesten Ansatz von Lenin, Trotzki und den Bolschewiki zunichte. So wurde beispielsweise Lenins Forderung nach einer rotierenden Präsidentschaft der Sowjetunion, an der Persönlichkeiten mit russischem, ukrainischem und kaukasischem Hintergrund beteiligt sein sollten, ignoriert, und ein Russe (Michail Kalinin) übernahm das Amt.

Georgien

Die Beispiele Georgien und Ukraine während der ersten Jahre der bolschewistischen Herrschaft zeigen, mit welch großen Schwierigkeiten der neu gegründete Arbeiter/innenstaat konfrontiert war. In beiden Ländern hatten die Menschewiki eine Unterstützungsbasis und forderten heuchlerisch die „Selbstbestimmung“, um die Revolution zum Scheitern zu bringen und sich der Forderung der Arbeiter/innen und Bäuer/innen nach vollständiger „Sowjetisierung“ zu widersetzen. Teile der arbeitenden Massen in diesen Ländern waren ungeduldig, die Revolution durchzusetzen, wie es die Bolschewiki in Russland getan hatten, und sie drängten die Rote Armee zum Eingreifen.

Trotzki war bezüglich einer militärischen Intervention in Georgien zurückhaltend. Er war der Ansicht, dass der Prozess der Sowjetisierung mehr Zeit zur Reifung benötigte, bevor die Rote Armee zum Einsatz kam. Später schrieb er: „Das menschewistische Georgien konnte nicht standhalten. Das war uns allen klar. Es gab jedoch keine Einstimmigkeit in Bezug auf die Bewegung und die Methoden der Sowjetisierung. Ich war für eine gewisse Vorbereitungszeit innerhalb Georgiens, um den Aufstand zu entwickeln und ihm später zu Hilfe zu kommen. Ich war der Meinung, dass nach dem Frieden mit Polen und der Niederlage von [General] Wrangel keine unmittelbare Gefahr von Georgien ausging und die Auflösung aufgeschoben werden konnte. Ordschonikidse, der von Stalin unterstützt wurde, bestand darauf, dass die Rote Armee sofort in Georgien einmarschieren sollte, wo der Aufstand vermutlich herangereift war. Lenin war geneigt, sich auf die Seite der beiden georgischen Mitglieder des Zentralkomitees zu stellen. Die Frage wurde im Politbüro am 14. Februar 1921 entschieden, als ich im Ural war.“

Diese Zeilen zeigen, wie sensibel Trotzki und Lenin in Bezug auf nationale Gefühle waren. Gleichzeitig bedeutete die Intervention der Roten Armee in Georgien und der Ukraine, wie Trotzki erklärte, keinen Bruch des Selbstbestimmungsprinzips, sondern sollte die sozialistische Revolution voranbringen. Allerdings hatte sie, wie Trotzki schrieb, langfristige Folgen: „Die militärische Intervention verlief recht erfolgreich und löste keine internationalen Komplikationen aus, wenn man von der verzweifelten Kampagne der Bourgeoisie und der Zweiten [sozialdemokratischen] Internationale absieht. Und doch hatte die Methode der Sowjetisierung Georgiens in den nächsten Jahren eine enorme Bedeutung. In den Regionen, in denen es den werktätigen Massen vor der Revolution in den meisten Fällen gelungen war, zum Bolschewismus überzutreten, nahmen sie die späteren Schwierigkeiten und Leiden als mit ihrer eigenen Sache verbunden hin. In den rückständigeren Regionen, in denen die Sowjetisierung von der Armee durchgeführt wurde, war dies nicht der Fall. Dort betrachteten die werktätigen Massen weitere Entbehrungen als Folge des von außen aufgezwungenen Regimes. In Georgien stärkte die verfrühte Sowjetisierung die Menschewiki für eine gewisse Zeit und führte zum breiten Massenaufstand im Jahr 1924, als Georgien nach Stalins eigenem Eingeständnis ‚von neuem gepflügt‘ werden musste.“ (Stalin, Ausgabe 1947)

Unabhängige Sowjetukraine 

Ins Exil gezwungen, gab Trotzki weiterhin Kommentare zur Unterdrückung und zur nationalen Frage ab, unter anderem über die Ukraine, Katalonien, die Schwarzen in den USA und die unterdrückten Juden in Europa. Im Jahr 1939 überraschte er viele, darunter auch einige seiner eigenen Anhänger, indem er die Unabhängigkeit der Ukraine auf sowjetischer Grundlage forderte. Dies geschah vor dem Hintergrund der wachsenden Verbindungen zwischen Hitlers Nazi-Regime und reaktionären ukrainischen Nationalisten.

Nach dem Einmarsch der Nazis in die Tschechoslowakei hatten die Nazis ein Gebiet unter ihrer Kontrolle, in dem die Bevölkerung ukrainisch sprach. Es war ihnen gelungen, in der Ukraine aufgrund des tiefen Hasses gegen die stalinistische Diktatur Unterstützung zu gewinnen. Hungersnöte, Massendeportationen und nationale Unterdrückung nährten den Widerstand gegen Stalins Herrschaft. Trotzki sah in der Losung einer „unabhängigen Sowjetukraine“ eine Möglichkeit, die Bäuer/innen anzusprechen und die ukrainische nationalistische Kollaboration mit Hitler zu überwinden.

Die Forderung nach einem unabhängigen ukrainischen Arbeiter/innenstaat würde auch einer politischen Revolution, mit der die Arbeiter/innenklasse die stalinistische Bürokratie in der gesamten Sowjetunion stürzen und die Arbeiter/innenklasse wieder an die Macht bringen könnte, einen enormen Auftrieb geben: „Natürlich könnte eine unabhängige Arbeiter/innen- und Bäuer/innen-Ukraine später der Sowjetföderation beitreten, aber freiwillig, zu Bedingungen, die sie selbst für akzeptabel hält, was wiederum eine revolutionäre Erneuerung der UdSSR voraussetzt. Die wirkliche Emanzipation des ukrainischen Volkes ist ohne eine Revolution oder eine Reihe von Revolutionen im Westen, die letztlich zur Schaffung der Vereinigten Sowjetischen Staaten von Europa führen müssen, nicht denkbar. Eine unabhängige Ukraine könnte und wird zweifellos dieser Föderation als gleichberechtigtes Mitglied beitreten. Die proletarische Revolution in Europa wiederum würde keinen Stein der widerlichen Struktur des stalinistischen Bonapartismus stehen lassen. In diesem Fall wäre der engste Zusammenschluss der sowjetischen Vereinigten Staaten von Europa und einer wirklich sozialistischen demokratischen UdSSR unvermeidlich und würde unendliche Vorteile für den europäischen und asiatischen Kontinent bringen, natürlich auch für die Ukraine.“ (Die ukrainische Frage, April 1939)

Die Ukraine heute

Die nationale Frage ist heute viel komplizierter als noch zu Zeiten Trotzkis und Lenins. Während des jüngsten militärischen Konflikts zwischen der Ukraine und Russland, die beide kapitalistische Regime unter der Herrschaft von Oligarchen sind, trat das CWI für das Recht der Ukraine auf Unabhängigkeit ein, lehnte aber das Kiewer Regime und dessen Politik, sich bei der Unterdrückung der Rechte von Minderheiten auf neofaschistische Elemente und rechte ukrainische Nationalist/innen zu stützen, entschieden ab. Das CWI wandte sich entschieden gegen die zynische und heuchlerische Einmischung der westlichen imperialistischen Mächte und der EU der Bosse in die Angelegenheiten der Ukraine als Mittel gegen Russland. Ebenso wandten wir uns gegen den großrussischen Chauvinismus von Wladimir Putin und seinen Anhängern und riefen zur Klassenunabhängigkeit im Kampf für eine sozialistische Konföderation der Region auf.

Während des ukrainisch-russischen Konflikts herrschte unter der internationalen Linken große Verwirrung. Viele in der Linken erlagen entweder dem reaktionären bürgerlichen ukrainischen Nationalismus oder dem großrussischen Nationalismus. Insbesondere stalinistische und stalinistisch geprägte Organisationen in aller Welt machten sich Illusionen über die „fortschrittliche“ Rolle des Putin-Regimes, das sich im Konflikt mit den westlichen Mächten befand. Auf der anderen Seite unterstützten viele liberale Linke und sogar einige vermeintliche Marxist/innen das EU-freundliche ukrainische Regime in seinem Konflikt mit Russland, als ob es trotz seiner Kollaboration mit offen faschistischen Kräften irgendwie einen aufgeklärteren Kapitalismus repräsentierte. Was die Linken, die diese gegensätzlichen Positionen vertraten, gemeinsam hatten, war ein Mangel an Vertrauen in die Arbeiter/innenklasse und das Fehlen eines klaren, unabhängigen Klassenansatzes. Im Endeffekt wurden beide Seiten zu Befürwortern des einen oder anderen oligarchisch-kapitalistischen Regimes.

Es kam sogar zu einer gewissen Verwirrung unter einer Gruppe von Anhänger/innen des CWI in Moskau, die dann 2019 aus opportunistischen Gründen das CWI verließen. Sie neigten dazu, die nationalen Gefühle auf der Krim herunterzuspielen. Damit reagierten sie auf die unzweifelhafte Ausnutzung der ethnisch russischen Gefühle auf der Krim durch das Putin-Regime. Doch Putins zynische Manöver machen die nationalen Rechte und Bestrebungen der Menschen auf der Krim nicht weniger legitim. Die Marxist/innen im CWI hingegen unterstützten ein echtes Selbstbestimmungsrecht der Krim und wandten sich gleichzeitig gegen den reaktionären russischen Nationalismus und das prowestliche ukrainische Regime.

Es ist wichtig, die echten demokratischen und nationalen Bestrebungen der Völker der Ukraine und der Region zu unterstützen. Marxist/innen lehnen die gewaltsame Eingliederung verschiedener Nationalitäten in einen Staat gegen ihren Willen ab. In Bezug auf die Krim unterstützte das CWI das Recht auf Selbstbestimmung – einschließlich der Abspaltung von der Ukraine -, was offenbar der Wunsch der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung war. Während das CWI jede echte Unabhängigkeitsbewegung kritisch unterstützt, verteidigt es die Rechte aller Minderheiten auf der Krim, einschließlich der Tataren und anderer. Gleichzeitig lehnen wir den reaktionären Nationalismus von Putin und den Oligarchen in Russland ab.

Mit „getarnten“ russischen Truppen auf den Straßen der Krim ist klar, dass das Referendum nicht fair und frei durchgeführt wurde. Dennoch schien es kaum Zweifel daran zu geben, dass eine Mehrheit der Bevölkerung die Rückkehr nach Russland befürwortete. Alle Zweifel, so argumentierte das CWI damals, könnten jedoch entweder durch die Wahl einer revolutionären verfassungsgebenden Versammlung, die durch Massenkomitees einberufen wird, um den Willen des Volkes zu ermitteln, oder durch ein wirklich demokratisches Referendum ausgeräumt werden.

Der blutige Kampf zwischen ukrainischen nationalistischen Kräften und russischstämmigen Kräften, insbesondere in der Ostukraine, führte zu einer Zersplitterung und Kantonalisierung der Region. Die Stadt Donezk und andere russischstämmige Enklaven erklärten ihre Unabhängigkeit von der Ukraine. Leider stehen diese abtrünnigen Gebiete unter der Herrschaft von Putins Regime und dienen nun den Interessen des russischen Imperialismus. Dies hat nur zu fast ständigen Konflikten und zur Verarmung der Bevölkerung in diesen Enklaven geführt.

Im Allgemeinen gilt das Selbstbestimmungsrecht für eine Nationalität, die mit einer bestimmten territorialen Einheit verbunden ist. Manchmal kann dies die Form einer kleineren Einheit, einschließlich einer Stadt, annehmen, die sich als getrennt und eigenständig betrachtet. Es kann bedeuten, dass Sozialist/innen für eine „gemeinsame“ oder „offene“ Stadt eintreten, wie es das CWI zum Beispiel in Bezug auf Brüssel vorschlägt.

Das CWI unterstützt das Recht der Menschen in diesen Gebieten, sich von der ukrainischen Vorherrschaft und damit auch von der Vorherrschaft von Putins Russland zu befreien. Sie sollten über ihre eigene Zukunft entscheiden dürfen. Gleichzeitig unterstreicht diese Krise, dass nur die Beseitigung des Kapitalismus und die Schaffung einer sozialistischen Konföderation der Ukraine und der Region die ethnischen und nationalen Auseinandersetzungen beenden kann. Marxist/innen rufen zur Einheit der Arbeiter/innenklasse über alle ethnischen und nationalen Grenzen hinweg auf und zum Aufbau von Arbeiter/innenmassenparteien, die sich die garantierten Rechte der Minderheiten und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen auf die Fahnen schreiben müssen.

[Dieser Text wurde vor der Invasion in der Ukraine 2022 geschrieben – aktuelle Artikel zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen im Zusammenhang mit der Ukraine findet ihr hier und hier]

Schottland

Trotzkis Herangehensweise an die Ukraine zeigt, dass Marxisten den Veränderungen des nationalen Bewusstseins Rechnung tragen müssen, und manchmal erfordert dies eine Anpassung des Programms. In Schottland zum Beispiel befürwortet eine Mehrheit der Arbeiter/innenklasse und der jungen Leute jetzt die Unabhängigkeit Schottlands. Dies stellt eine deutliche Veränderung gegenüber der Situation in den 1970er Jahren dar, als die Unterstützung für die Unabhängigkeit kaum zweistellig war. Das CWI hat sein Programm zur nationalen Frage nach der Methode Trotzkis sensibel aktualisiert, um diesem sich entwickelnden Bewusstsein Rechnung zu tragen. In den späten 1990er Jahren begannen wir, für ein unabhängiges sozialistisches Schottland einzutreten. Wichtig war, dass wir dies mit einer freiwilligen sozialistischen Föderation Schottlands mit England, Wales und Irland verbanden.

Die Notwendigkeit, ein marxistisches Programm auf der Grundlage der sich verändernden Sichtweise und des Bewusstseins der am stärksten unterdrückten Schichten ständig neu anzupassen, ermöglichte es unserer schottischen Sektion, dynamisch in das Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2014 einzugreifen. Wir riefen zu einem Votum für die Unabhängigkeit auf, unterstützten aber in keiner Weise die Politik der Scottish National Party, jener prokapitalistischen, nationalistischen Partei, die die Kampagne anführte. In Anlehnung an Karl Marx, Friedrich Engels, Wladimir Lenin und Leo Trotzki unterschieden wir zwischen dem Nationalismus der Unterdrückten – insbesondere der Arbeiter/innenklasse – und dem Nationalismus der Unterdrückenden bzw. derjenigen, die in einem unabhängigen Schottland die Rolle des Unterdrückenden anstreben. Dieser prinzipienfeste Ansatz und die sorgfältige Analyse der wechselnden Stimmungen in der Arbeiter/innenklasse standen in scharfem Gegensatz zu den Aktionen vieler Linker.

Die Internationale Marxistische Tendenz (IMT), die sich in den 1990er Jahren vom CWI abspaltete, setzte sich beim Referendum für ein Nein ein. Sie hat die aufrührerische Stimmung unter den dynamischsten Teilen der Arbeiter/innenklasse und der jungen Menschen, die die Unabhängigkeit als Ausweg aus dem Alptraum der Austerität befürworteten, völlig falsch eingeschätzt. Doch nur wenige Wochen nach dem Ergebnis des Referendums, bei dem 1,6 Millionen Menschen trotz einer heftigen Kampagne der Kapitalist/innenklasse für die Unabhängigkeit stimmten, machte die IMT eine abrupte Kehrtwende und sprach sich für die schottische Unabhängigkeit aus.

Die “jüdische Frage”

Lenin und Trotzki haben nie einen dogmatischen und festen Standpunkt zur nationalen Frage eingenommen. Ein nationales Bewusstsein kann sich im Laufe der Zeit aufgrund spezifischer Bedingungen herausbilden, die sich unter anderem aus ethnischer Zugehörigkeit, Religion und Sprache ergeben. Die Bolschewiki betrachteten die Jüd/innen in Russland und Mitteleuropa als eine besonders unterdrückte Schicht. Die jüdische Bevölkerung neigte dazu, verstreut zu leben und hatte kein klar abgegrenztes „Heimatland“. Doch Trotzki änderte seine Position, als die jüdische Bevölkerung in den 1930er Jahren von den Nazis barbarisch verfolgt wurde. „Auch ohne Krieg wird die sich entwickelnde weltweite Reaktion mit Sicherheit zur physischen Ausrottung der Juden führen“, warnte Trotzki 1938.

Er war bereit zuzugestehen, dass ein Heimatland für die Juden geschaffen werden könnte: „Zur Judenfrage kann ich zunächst sagen, dass sie nicht im Rahmen des kapitalistischen Systems gelöst werden kann, auch nicht durch den Zionismus. Früher dachte ich, die Juden würden sich den Völkern und Kulturen, unter denen sie lebten, anpassen. Das war in Deutschland und sogar in Amerika der Fall, und deshalb war es möglich, eine solche Vorhersage zu treffen. Aber jetzt ist es unmöglich, dies zu sagen … Die territoriale Frage ist relevant, weil es für ein Volk einfacher ist, einen wirtschaftlichen und kulturellen Plan zu verwirklichen, wenn es in einer kompakten Masse lebt … Wenn die Juden dies wünschen, wird der Sozialismus kein Recht haben, es ihnen zu verweigern.“ (Interview mit der jüdischen Zeitung Forward, aus den Schriften von Leo Trotzki, 1936-37)

Trotzki wandte sich jedoch weiterhin entschieden gegen die zionistische Forderung nach einem “Heimatland” im Nahen Osten. Er warnte davor, dass ein jüdischer Staat in der Region vom Imperialismus als Puffer gegen die arabische Revolution benutzt werden würde, was mit der Gründung Israels und der anschließenden nationalen Unterdrückung der Palästinenser/innen auch geschah. Trotzki warnte auch zu Recht davor, dass ein jüdischer Staat im Nahen Osten zu einer „blutigen Falle“ für die Jüd/innen selbst werden würde.

Trotzki wandte sich zwar gegen die zionistischen Pläne, das jüdische Proletariat von der Arbeiter/innenklasse insgesamt zu trennen, wies aber gleichzeitig darauf hin, dass eine sozialistische Weltföderation..: „… über unvorstellbare Ressourcen in allen Bereichen verfügen wird. Die Menschheitsgeschichte hat die Epoche der großen Völkerwanderungen auf der Grundlage der Barbarei erlebt. Der Sozialismus wird die Möglichkeit großer Wanderungen auf der Grundlage der am weitesten entwickelten Technik und Kultur eröffnen. Es versteht sich von selbst, dass es sich dabei nicht um Zwangsumsiedlungen handelt, d.h. um die Schaffung neuer Ghettos für bestimmte Nationalitäten oder Teile von Nationalitäten, sondern um freiwillig beschlossene Umsiedlungen.“ (“Zur Judenfrage”)

Seit Trotzki diese Zeilen schrieb, wurde der Staat Israel gegründet. Nach dem Holocaust der Nazis gab es große Sympathie für die Notlage der verfolgten Juden und ihr Bedürfnis nach einer sicheren Heimat. Trotzkist/innen waren damals jedoch gegen die gewaltsame, brutale Vertreibung der Palästinenser/innen aus ihrer Heimat und die Gründung des Staates Israel mit Unterstützung der USA, Großbritanniens und anderer (westlicher) Imperialist/innen (auch Stalin unterstützte anfangs den Staat Israel), der als Bollwerk gegen die widerspenstigen arabischen Arbeiter/innenmassen eingesetzt wurde. Dennoch gibt es auch Jahrzehnte nach der Staatsgründung ein israelisches Nationalbewusstsein, dem Rechnung getragen werden muss. Das CWI unterstützt daher das Recht des israelischen Volkes auf einen eigenen Staat, aber dies kann nicht auf Kosten der Palästinenser/innen geschehen, die unermesslich gelitten haben und denen ihr Recht auf Selbstbestimmung immer noch verweigert wird. Wir fordern einen unabhängigen sozialistischen palästinensischen Staat und ein sozialistisches Israel als Teil einer sozialistischen Föderation in der Region auf einer freien und gleichberechtigten Grundlage. Nur so können die tiefen Spaltungen und das Misstrauen überwunden werden.

Die schwarze Bevölkerung in den USA

Was die Perspektiven für die schwarze Bevölkerung in den USA in den 1930er Jahren anbelangt, so korrigierte Trotzki die einseitige Haltung seiner US-Anhänger/innen gegenüber der Möglichkeit, dass eine Bewegung für Selbstbestimmung und einen eigenen schwarzen Staat in den USA entstehen könnte. Seine US-Anhänger/innen hatten sich dieser Forderung widersetzt, als sie von der Kommunistischen Partei in Amerika erhoben wurde, die für das Selbstbestimmungsrecht der schwarzen Bevölkerung und ihr Recht auf die Gründung eines eigenen unabhängigen Staates im Süden eintrat. Die amerikanischen Trotzkist/innen hielten dem die Forderung nach einem Kampf für gleiche Rechte und die Einheit von schwarzen und weißen Arbeitern zum Sturz des Systems der Bosse entgegen.

Trotzki warnt davor, die Möglichkeit auszuschließen, dass diese Forderung nach einem eigenen Staat unter bestimmten Bedingungen breite Unterstützung finden könnte. Es sei nicht auszuschließen, dass die Forderung nach einem eigenen Staat in einem bestimmten Stadium aufkommen könnte, insbesondere wenn sich eine große faschistische Bewegung entwickeln würde, deren Hauptziel die schwarze Bevölkerung wäre. Die Kommunistische Partei lag jedoch falsch darin, den Slogan nach vorne zu stellen, ohne dass er zuvor von der schwarzen Bevölkerung vorgebracht worden sei. Dies könnte als Versuch interpretiert werden, die Segregation innerhalb der Arbeiter/innenklasse zu verstärken.

Seit den 1930er Jahren hat sich die Situation jedoch wiederum drastisch verändert. Noch 1940 waren drei Viertel der schwarzen Bevölkerung im Süden konzentriert. Doch selbst in diesen Staaten, in denen ein eigener Staat möglich gewesen wäre, kam es nicht zur Entstehung und Festigung einer Bewegung für einen eigenen Staat.

Heute ist die schwarze Bevölkerung der USA Teil der Arbeiter/innenklasse als Ganzes. Die Massenmigration der schwarzen Bevölkerung in den Norden, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, und ihre „Proletarisierung“, auch im Süden, haben die Forderungen nach Separatismus untergraben. Die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung ist im Norden und in den städtischen Gebieten konzentriert. Die Probleme der schwarzen Arbeiter/innen sind die Probleme der Arbeiter/innenklasse insgesamt, nur in einer weitaus akuteren Form, und natürlich sind sie mit polizeilicher und anderer rassistischer Unterdrückung konfrontiert.

Eines der markantesten Merkmale der jüngsten großen Black-Lives-Matter-Proteste war die Tatsache, dass sie viele weiße Jugendliche aus der Arbeiter/innenklasse anzogen. Die BLM-Bewegung hat auch internationale Dimensionen angenommen und Massenproteste in der ganzen Welt ausgelöst. Dies sind sehr wichtige Schritte nach vorn und eine starke Antwort auf die spaltende kleinbürgerliche Identitätspolitik.

Wenn es der Arbeiter/innenbewegung jedoch nicht gelingt, den Kämpfen der am stärksten diskriminierten und unterdrückten Teile der Gesellschaft eine Richtung zu geben, können die Ideen des schwarzen Nationalismus, des „kulturellen Nationalismus“ und des Separatismus wieder wachsen. Wie Trotzki gezeigt hat, müssen Marxist/innen, wenn diese falschen Ideen von Jugendlichen aufgegriffen werden, entschlossen mit einer Klassenalternative antworten, aber mit Geduld und Takt.

Katalonien

Am Vorabend der spanischen Revolution der 1930er Jahre unterstützte Trotzki das Selbstbestimmungsrecht der katalanischen Bevölkerung, einschließlich des Rechts, sich vom spanischen Staat zu trennen. Er riet seinen Anhänger/innen, sich dafür einzusetzen, dass den Interessen der katalanischen Arbeiter/innenklasse am besten in einer sozialistischen Föderation Iberiens gedient sei. In einem Briefwechsel mit seinen Anhänger/innen im September 1931 erläuterte Trotzki seine Position: „Wir sind nicht gegen die demokratische Revolution, sondern im Gegenteil, wir unterstützen sie voll und ganz, sogar in der Form der Trennung (das heißt, wir unterstützen den Kampf und nicht die Illusionen), und gleichzeitig bringen wir unsere eigene unabhängige Position in die demokratische Revolution ein, indem wir die Idee der sowjetischen Föderation der iberischen Halbinsel als konstituierenden Teil der Vereinigten Staaten von Europa empfehlen, beraten und propagieren.“ (Die Spanische Revolution, 1931-1937)

Mit dem Ausbruch der Revolution betonte Trotzki die Notwendigkeit, dass die revolutionäre Arbeiter/innenbewegung in ganz Spanien den Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts sowohl für Katalonien als auch für das Baskenland unterstützt. Trotzki rief erneut zu einer sozialistischen Föderation auf. Er warnte jedoch vor den Folgen der übermäßigen Betonung des Nationalismus durch die kommunistische Katalanische Föderation unter der Führung von Joaquin Maurín. Trotzki warnte davor, dass dieser Opportunismus zu einem Abrücken von der übrigen Arbeiter/innenbewegung in ganz Spanien führen könnte.

Maurins Kräfte schlossen sich mit der Mehrheit der spanischen Linken Opposition unter der Führung von Andreu Nin zusammen, um die zentristische Arbeiter/innenpartei der marxistischen Vereinigung (POUM) zu bilden, die zwischen Reformismus und Marxismus schwankte. Anfangs sah Trotzki mit Begeisterung zu, dass Nin eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der echten Kräfte des spanischen Marxismus, insbesondere in Barcelona, spielen würde. Aber er sollte von Nins opportunistischer Anpassung an andere, wie Maurín, bitter enttäuscht werden, was große Folgen hatte.

Die Spanische Sozialistische Partei hatte begonnen, nach links zu schwenken, und ihr Jugendflügel rief die Trotzkist/innen auf, sich ihm anzuschließen und sie zu „erziehen“. Trotzki drängte seine Anhänger/innen – die zu einem bestimmten Zeitpunkt in Katalonien größer waren als Stalins Kommunistische Partei – dazu, der Sozialistischen Partei beizutreten, insbesondere dem Jugendflügel. Nin lehnte jedoch unter dem Einfluss von Maurín Trotzkis Rat ab, und eine entscheidende Chance war vertan. Die „kommunistische“ Partei konnte sich opportunistisch an der Sozialistischen Partei orientieren und die Mehrheit der Jugend für sich gewinnen. Dies trug dazu bei, die sehr günstigen Aussichten für die spanische Revolution zu verspielen.

Das Referendum von 2017

Die nationale Frage ist in den letzten Jahren in Katalonien wieder aufgeflammt. Die jahrzehntelange Unterdrückung unter der faschistischen Herrschaft General Francos hat tiefe Narben hinterlassen, die durch die jahrelangen Sparmaßnahmen der spanischen Zentralregierung nach Ausbruch der globalen Finanzkrise 2007-08 noch verstärkt wurden. Das rigorose und repressive Vorgehen des spanischen Zentralstaates verstärkte die nationalistischen Leidenschaften in Katalonien und führte zu einer Verfassungskrise. Ein am 1. Oktober 2017 abgehaltenes „illegales“ Unabhängigkeitsreferendum, das halbherzig von bürgerlichen katalanischen nationalistischen Politikern angeführt wurde, wurde von Spaniens rechter Volkspartei-Regierung unterdrückt. Trotzkis Bemerkung, dass Nationalismus „die äußere Hülle eines unreifen Bolschewismus“ sein kann, wurde durch die Reaktion der katalanischen Arbeiter/innen bestätigt, die zu Millionen gegen die Unterdrückung protestierten.

Das CWI vertrat eine prinzipienfeste Position der Unterstützung des Selbstbestimmungsrechts für Katalonien. Wir wandten uns gegen den von der spanischen herrschenden Klasse und den bürgerlichen Parteien geschürten Nationalismus. Wir kritisierten auch die beschämende Position der „Äquidistanz“ zwischen dem katalanischen und dem spanischen Nationalismus, die von der linken Partei Podemos vertreten wird, die sich derzeit die Macht mit der rechten PSOE (Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens) teilt. Wir forderten eine unabhängige Arbeiter/innenrepublik Katalonien und sprachen uns dafür aus, dass nach der Unabhängigkeit eine sozialistische Föderation auf freier und freiwilliger Basis und mit vollen Rechten für alle Minderheiten, einschließlich der spanischsprachigen in Katalonien und anderswo, entstehen sollte.

Lebendiger Prozess

Wie die genannten Beispiele zeigen, gibt es kein einfaches marxistisches Konzept für die nationale Frage, das mechanisch auf alle Situationen zu allen Zeiten und an allen Orten angewendet werden kann. Wie Marx, Engels und Lenin war auch Trotzkis Methode, die nationale Frage anzugehen, sowohl prinzipienfest als auch flexibel. Sie hatten den Zugang, dass die nationale Frage nicht in Stein gemeißelt ist, sondern ein lebendiges, sich wandelndes Phänomen darstellt, das von Marxist/innen eine sorgfältige Untersuchung und die richtige Anwendung von Forderungen und Programmen verlangt.

Dieser Ansatz wird von den CWI-Genossen in Sri Lanka seit Jahrzehnten verfolgt. Sie halten mutig an einer prinzipienfesten marxistischen Position zur nationalen Frage fest, was bedeutet, dass sie das Recht der Tamil/innen unterstützen, ihre eigene Zukunft zu bestimmen, und für die Einheit von singhalesischen und tamilischen Arbeiter/innen im Kampf gegen das System der Bosse eintreten. Gleichzeitig ist der Rest der Linken in Aufruhr und kapituliert auf die eine oder andere Weise vor dem bürgerlichen Nationalismus, einschließlich einiger „Marxist/innen“, die sogar vollständig zu bürgerlichen Parteien übergelaufen sind.

In ähnlicher Weise tritt das CWI in Nigeria, das mit vielfältigen ethnischen, stammesbedingten, religiösen und nationalen Problemen konfrontiert ist, eindeutig für das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nationalitäten ein, wobei die Rechte der Minderheiten in vollem Umfang garantiert werden müssen, und zwar als Teil eines Kampfes für die größtmögliche Einheit der Arbeiter/innen im Kampf für eine sozialistische Gesellschaft.

Der Fall der unterdrückten Kurd/innen – der größten Nationalität ohne Heimatland – zeigt, dass Marxist/innen bei der Verwirklichung nationaler Rechte einen flexiblen Ansatz wählen müssen. Die Kurd/innen sind über mehrere Länder verstreut und werden in unterschiedlichem Maße unterdrückt. Das CWI unterstützt das Recht der Kurd/innen, frei über ihre Zukunft zu entscheiden. Vor diese Wahl gestellt, können sich die Kurd/innen in verschiedenen Gebieten für Autonomie, Unabhängigkeit oder den Zusammenschluss zu einem größeren Kurdistan entscheiden. Diese Entscheidung sollte von den Kurd/innen frei getroffen werden können.

Im Kapitalismus wird dieses demokratische Grundrecht verweigert, da jede herrschende Klasse, die die Kurd/innen unterdrückt, den Zerfall ihres Nationalstaates und die Bildung eines radikalisierten kurdischen Staates vor ihrer Haustür fürchtet, der als Inspiration für ihre eigene Arbeiter/innenklasse dienen würde. Darüber hinaus werden die Kurd/innen seit langem von lokalen und internationalen Mächten als Schachfiguren benutzt. Nur die sozialistische Revolution in der gesamten Region kann die nationalen Bestrebungen der leidgeprüften Kurd/innen erfüllen, als Teil einer sozialistischen Föderation, die garantiert, dass Minderheiten nicht unterdrückt werden.

Während wir uns in neue stürmische Gewässer der kapitalistischen Krise begeben, was die nationale Frage überall auf der Welt verschärfen wird, werden sich die Ideen und Methoden von Leo Trotzki und den anderen Marxist/innen als unschätzbar erweisen.